Neithard Bethke ist am 1. April 2006
seit 50 Jahren festangestellter Kirchenmusiker
Eine kleine Bildchronik in Stichworten
(aus den "Ratzeburger Dommusiken 2006/2007)
von Neithard Bethke

Prolog:

„Door is keen Musik nich! Door is keen Musik nich! Uns’ Orgelspeeler is eenfach wegbleeven! Du schallst forts röverkaamen!“

Nein, es war kein Aprilscherz, wie man mutmaßen könnte, als am Ostersonntag, den 1. April 1956, kaum, dass die den Gottesdienst einläutenden Osterglocken verstummt waren, urplötzlich der Küster Wilhelm Steltzner unserer Wöhrdener St. Nicolai-Heimatkirche in Dithmarschen atemlos in das Pastorat gestürzt kam, wo wir Kinder noch am festlich dekorierten Frühstückstisch saßen, derweilen die Eltern schon in den Gottesdienst gegangen waren. Es war zudem ein Tag vor meinem 14. Geburtstag, an dem ich ganz offiziell im Ostermontagsgottesdienst als „wohlbestallter“ Kirchenmusiker in Wöhrden eingeführt werden sollte. Der Abschiedsgottesdienst für den bisherigen altverdienten Lehrer-Organisten Wilhelm Schettiger war auf den festlichen Ostersonntag gelegt worden. Aber der war einfach nicht gekommen, weil, wie sich später herausstellte, er nicht mehr die Nerven und den Mut aufbrachte, zu seinem Abschied zu erscheinen. Vielmehr stand er geduckt hinter der Gardine im nahen Schulhaus und spähte hinter dieser Sichtblende neugierig hervor, was sich jetzt wohl vor der Kirche abspielen würde.

Mein Vater, Pastor an der Kirche, schickte augenblicklich nach mir, während meine Mutter oben auf der Empore als langjährige Chorleiterin des Wöhrdener Kirchenchores die Wartezeit bis zu meinem erhofften Eintreffen überbrückte, und mit ihren (ziemlich alten) Sängerinnen, die, da zumeist Kriegsflüchtlinge, selbst beim Singen ihre heimische schlesische und ostpreußische Mundart nicht ablegen konnten, schnell den pietistischen Ostergesang anstimmten, den sie seit Weihnachten eingeübt hatten: „Ostern, Ostern, Frühlingswehen, Ostern, Ostern, Auferstehen…“ . Eigentlich war dieses Chorlied unmittelbar nach der Predigt geplant, die mein Vater allwöchentlich mit den Worten zu beschließen pflegte – und damit auch das warnende Signal für den Organisten gebend, dass er, falls notwendig, dringend aufwachen müsste – : „…So lasst uns denn dieses Wort mitnehmen hinaus in den grauen Alltag, auf dass es uns erleuchte und stärke auf unserem weiteren Lebenswege. Amen!“

So hatten nun die Gottesdienstbesucher – links die Frauen, rechts die Männer, ganz vorne die Konfirmanden (zum leichteren Beaufsichtigen und notfalls notwendig werdendem Züchtigen durch die amtierende Obrigkeit), dann die Einheimischen und ganz hinten die Flüchtlinge – das musikalisch zweifelhafte, aber herzensgut gemeinte Vergnügen, heute zweimal diese Ostermotette zu verinnerlichen. (Ich habe sie übrigens thematisch in meinem opus 57 wiederbelebt!).

„Door is keen Musik nich! Door is keen Musik nich! Uns’ Orgelspeeler is eenfach wegbleeven! Du schallst forts röverkaamen!“

Das war nun kein Problem für mich damals. Am Klavier hatte ich gesessen, seit ich krabbeln konnte, das Harmonium, welches zum Klingen nur durch gleichzeitiges Lufttreten zu bringen war, kam im sechsten Lebensjahr dazu, die alte im Wöhrdener Gebrauch befindliche Stoltenbergsche Liturgie von 1892 kannte ich der Melodie nach vorwärts und rückwärts, den Sinn von ihr weniger, an der Kirchenorgel suchte ich mich ohne lange Anleitung in Farbregistern und Manualen und dem interessanten elektrischen Schaltschützschalter seit dem siebenten Lebensjahr selbst zurecht. Und oft genug hatten wir Pastorenkinder in der Nachkriegszeit die Bälge für die Orgelwindversorgung treten müssen, weil die Stromversorgung zusammengebrochen war, auch daher kannten wir die gottesdienstlichen Abläufe ganz genau. Im gleichen Lebensjahr spielte ich vertretungsmäßig die ersten Kindergottesdienste, die Choräle frei nach Gehör und die Harmonisierung eben so frei ohne jede Notenkenntnisse, so, wie ich es immer von dem Dorfschullehrer in den Gottesdiensten gehört hatte (samt seiner fest einstudierten und über Jahrzehnte gepflegten Fehler, wie ich erst viel später merkte). Mit neun Jahren saß ich zum ersten Mal in einem Hauptgottesdienst an der Orgel. Die Freude am gottesdienstlichen Orgelspiel ist mir von diesem ersten Mal unverändert bis heute geblieben.

Dann bekam ich den ersten Klavierunterricht von meiner Mutter, einer professionellen Klavierpädagogin, es folgten – stets sehr kurzzeitig – Klavier- und später auch Orgelunterricht bei Organisten aus der näheren Umgebung, der aber stets in den Anfängen versandete, weil ich nicht ernsthaft zum Üben Grund sah, denn ohne Noten improvisierte und fantasierte sich es für mich auf Orgel und Klavier und Harmonium viel müheloser und vor allem effektvoller. So anerkannt effektvoll, dass der NWDR, der damalige Nordwestdeutsche Rundfunk, eines Tages – ich war damals erst elf Jahre alt – mit einem Aufnahmewagen vor der Wöhrdener Kirchentür stand, und ich an der Anthonius-Wilde-Orgel von 1593, die damals noch nicht restauriert war, meine erste Rundfunkorgelaufnahme einspielen durfte, der in meinem Leben noch etliche folgen sollten. Das Tonband ist noch vorhanden

Das von mir dann als Noch-Dreizehnjähriger gespielte jubelnde „Christ ist erstanden – Christus resurrexit hodie“ dieses turbulent beginnenden Ostergottesdienstes hat mich bis heute das ganze Leben über begleitet und nicht von ungefähr auch viele Kompositionen von mir ausgelöst. Turbulent auch bis in die heutigen Tage blieb es über die ganze Zeit als Kirchenmusiker. Der Anfang, bei dem ich sozusagen ohne Vorwarnung ins Wasser geworfen wurde und einfach zu schwimmen und den Kopf  über die stürmischen Wellen zu halten hatte, ist symptomatisch für meine gesamte Dienstzeit geworden, vor allem, weil ich nie zufrieden war, „Dienst nach Vorschrift“ zu machen, sondern stets wagemutig unausgetretene neue Pfade beging, deren Ende viele nicht absehen konnten, ich selber aber immer unbeirrt ein ganz klares Ziel vor Augen hatte – und bis heute hin habe.

Die Restaurierung der Wöhrdener alten Orgel durch die Lübecker Orgelbaufirma Kemper nutzte ich zur intensiven Ausbildung im Orgelbau. Es war der die Letztintonation vornehmende legendäre Orgelbaumeister Heinrich Krause aus Hamburg, der mir nicht nur mit dem weitgehend selbstständigen Bau des neuen Rückpositivs eine Gesellenprüfung im Orgelbau testierte, sondern er ist es gewesen, der mir ganz entscheidend die Augen öffnete und mich zwang, Orgelspielen nach Noten zu lernen, weil es einfach mit dem Hinphantasieren in der Zukunft nicht genügen konnte, sobald man einmal den Kopf über den Dorfrand von Wöhrden heben würde. Er schenkte mir meine ersten Orgelnoten: zwei gebrauchte Orgelbände von Bach in der Ausgabe von Naumann, die – inzwischen sorgsam eingebunden – noch heute in meinem Notenschrank stehen, und er übte mit mir nachts nach getaner Arbeit an der Register für Register immer vollständiger werdenden Orgel unerbittlich das erste Orgelstück nach Noten ein: Bachs großes Praeludium und Fuge G-Dur. Ich spielte es zur Orgeleinweihung im morgendlichen Festgottesdienst. Stolz nahm ich die grenzenlose Bewunderung von dem von mir sehr verehrten Orgelbausachverständigen Helmut Schröder aus Pinneberg auf, als er am Nachmittag mit seinem Kammerchor zu einem festlichen Einweihungskonzert kam, und er von dieser meiner musikalischen Tat erfuhr. Er hat mich von da an entscheidend in meiner musikalischen Entwicklung begleitet und gefördert. Ein fast 50-jährig währender Bogen ist übrigens noch in anderer Hinsicht an dieses Ereignis geknüpft: In diesem Chor sang damals auch Helmut Schröders hübsche Tochter Uschi mit, die sich wohl infolge dieses unvergesslichen musikalischen Abends noch mit ihrem ebenfalls im Chor singenden Freund Ernst du Maire verlobte. Beide singen seit Jahren und noch bis heute gut und gerne in meinem Ratzeburger Domchor mit und kennen also die „ganze Story“ auch aus eigenem Blickwinkel.

Hier möchte ich etwas für mich persönlich Wichtiges einflechten dürfen: Es gibt noch eine Person, die von dieser Orgelweihe im Jahre 1960 in Wöhrden an fast ganz lückenlos mein musikalisches Leben bis heute hin eng und freundschaftlich begleitet hat, und der das meiste, was in diesem kleinen Aufsatz beleuchtet wurde, aus eigenem Miterleben bezeugen könnte: Das ist mein ältester Freund Dr. Michael Ramelow aus Hamburg. Freundschaft bemisst man nicht ausschließlich nach Intensität, sondern auch nach Dauer. Diese unsere Freundschaft hat bisher 46 Jahre unverbrüchlich gehalten, durch alle Höhen hinweg, durch alle Tiefen hindurch, die jedermanns Leben und somit auch unser beides ausmachen. Es ist ein tiefes gegenseitiges Verständnis für das Denken und Tun des Anderen gewachsen. Dafür bin ich dankbar. Die musikalische Entwicklung von mir wurde von Michael schon 1960 prognostiziert, und ich freue mich, dass ich ihn offenbar nicht enttäuscht habe. Selbstverständlich wird er in dem Jubiläumskonzert in Wöhrden anwesend sein, da an dem Ort, wo unsere Freundschaft mit Musik begann und sich stets an unserer beider Musikliebe entzündet und von ihr genährt hat.

Bald übernahm ich von meiner Mutter den Kirchenchor, den ich schnell mit dem von mir gegründeten „Büsumer Jugendchor“, zwölf jungen Sänger aus meinem Gymnasium, verstärkte und verjüngte. Das erste Stück, welches ich mühsam und ohne jede Erfahrung in Chorleitung einstudierte, ich erinnere mich genau, war die Motette „Cantate Domino“ von Dietrich Buxtehude. Mit meinen Geschwistern, die noch im Hause waren, bildeten wir als Bläsersextett einen schönen familieneigenen Posaunenchor. So sammelte ich auch dort erste Ensemble-Erfahrungen, die ich erweitern und verfestigen konnte, indem ich in Dithmarschen „aus dem platten Land heraus“ zum Erstaunen aller ein eigenes 25-köpfiges Streichorchester gründete und sammelte, und es bis zu meinem Weggang von Wöhrden im Jahr 1967 leitete, übrigens nach zwei spektakulären oratorischen Aufführungen mit dem Wöhrdener Kirchenchor von etwa 80 (!) Wöhrdener und Dithmarscher Sängern, dem „Messias“ (1965) und dem „Weihnachtsoratorium“ (1966) leitete. Übrigens war der Chordirigent des Norddeutschen Rundfunks aus Hamburg, der legendäre Max Thurn, Hörer dieser „Messias“-Aufführung. Er äußerte damals – und dieses auch schriftlich und öffentlich: „Von diesem hochtalentierten und begabten jungen Dirgenten wird man in Zukunft noch oft sprechen müssen und ganz Großes erwarten dürfen!“

TEIL II

Das vorzeitige Ende der Schulzeit im Jahr 1962 – ich hatte keine Zeit mehr für Schularbeiten und widmete mich fast ausschließlich dem Notenlernen und Orgelspielen an der „neuen“ alten Orgel – wurde markiert mit der am Schleswiger Dom extern abgelegten C-Kirchenmusiker-Prüfung, deren Zeugnis nur eine einzige Note „gut“ im Singen („Wir können ihn ja nicht dafür bestrafen, dass Gott ihm eine so scheußliche Stimme geschenkt hat!“ war die einhellige Meinung der Prüfungsjury)), ansonsten aber ausschließlich die Prädikate „sehr gut“ enthielt. Einen Monat später begann ich ohne weitere Aufnahmeprüfung – das Zeugnis war ja eindeutig – das Kirchenmusikstudium an der Schleswig-Holsteinischen Musikakademie und Norddeutschen Orgelschule in Lübeck.

Drei Jahre später legte ich das zweite Kirchenmusikexamen, die B-Prüfung, ab und begann danach parallel zum weiterführenden Kirchenmusikstudium die Hauptfächer Orchesterdirigieren und Komposition zu belegen. In Hamburg hatte ich schon länger intensiven und hervorragenden Klavierunterricht bei der schon legendären Pianistin Ina Krieger. Endlich! Schon zwei Jahre lang war ich zu jener Zeit schon Assistent und zweiter Organist an der St. Marien-Kirche unter meinem erst heimlichen und dann „unheimlichen“ Lehrer Professor Walter Kraft, den ich immer öfter in den großen Gottesdiensten in St. Marien Lübeck, aber bald auch in Konzerten an der damaligen Totentanzorgel und dann auch an der in dieser Zeit neu installierten großen Orgel im Westwerk vertrat. Ebenfalls im Jahre 1965 gründete ich, um mit einem guten Orchester ständig arbeiten zu können, das Hansische Kammerorchester Hamburg-Lübeck e. V. mit Sitz in Hamburg, welches sich aus Berufsmusikern aus diesen beiden Hansestädten und aus fortgeschrittenen Instrumentalisten der Hochschulen zusammensetzte. Mit diesem Orchester bespielten wir im Laufe der Zeit den ganzen norddeutschen Raum. Erst als ich im Jahre 1981 das Deutsche Bachorchester übernahm, lief dieses Ensemble langsam aus bzw. wurde von mir personell in das Bachorchester überführt.

Das Orchesterdirigieren machte mir Freude, und es schien mir so, als ob ich beim Dirigieren noch mehr musikalische Aussage erreichte als beim Orgelspielen. Ich beeilte mich, das Dirigierhandwerk zu vervollkommnen. Ich fand in dem berühmten Dirigenten Igor Markevitch, der zu jener Zeit (1966) Chefdirigent des Radio- und Fernsehorchesters in Madrid war, einen sehr strengen, jedoch großartigen und verständnisvollen Lehrer und Förderer. Die Lehrzeit in Spanien, die von außerordentlichem Erfolg für mich gekrönt war, endete mit mehreren öffentlichen Orchester-Dirigaten. Doch es war auch Igor Markevitch und seinem Assistenten und meinem späteren Freund Herbert Blomstedt (später Chefdirigent beim NDR-Orchester Hamburg) zu verdanken, dass ich noch im selben Jahr zu einem zweiten überragenden Orgellehrer kam: Pierre Cochereau, dem Organisten von Notre-Dame/Paris, der mit diesen beiden Dirigenten sehr befreundet war. Man war der Meinung, nachdem mich beide bei einem Orgelkonzert in der Kathedrale von Santiago de Compostela gehört hatten, dass ich auf jeden Fall das Orgelspiel weiterpflegen solle, ich wäre auch da eine herausragende Begabung, besonders in der Kunst der Improvisation. Am 15. August 1966 (Mariae Himmelfahrt) spielte ich in Paris Maitre Cochereau im Festgottesdienst nach einem von ihm ad hoc gegebenen Thema vor. Danach nahm er mich bewegt in die Arme und dann in seine Orgelklasse auf.

Mehrmals konzertierte ich in den Folgejahren in Notre Dame/Paris, immer waren hier unvorstellbare 3000 bis 4000 Hörer anwesend. Eine Freude war es mir, einmal zu so einem Konzert auch aus Ratzeburg den Freund Uwe Steffen mit Frau Hille und den befreundeten Kreisarchivar Dr. Hans-Georg Kaack mitnehmen zu können, damit sie so an meinen spektakulären musikalischen Erfolgen auch einmal persönlich teilnehmen konnten. Die Freude damals war für uns alle vollkommen, als der mir ebenfalls befreundete Intendant Rolf Liebermann, der damals an der Pariser Oper den „Parsifal“ von Wagner (meiner Kapellmeisterprüfungsoper) inszeniert hatte, uns Freikarten für die dortige zeitgleiche Premiere zugesteckt hatte.

 



Im Jahr 1967 legte ich das Staatsexamen als Kapellmeister in Lübeck ab, und ein Jahr später – trotz einer ernsthaften langwierigen Hand- und Armverletzung – das A-Staatsexamen als Kirchenmusiker. Im gleichen Jahr noch immatrikulierte ich an der Staatlichen Musikhochschule in Freiburg/Brg., kam in die Orgelklasse von Prof. Walter Kraft, mit dem Ziel, dort nach mehrsemestrigem Studium meine Konzertreifeprüfung als Orgelspieler abzulegen.

 

Nach mehrmonatigen Vakanzvertretungen an der Stadtkirche in Preetz und in Hamburg-Mundsburg an der St. Gertrud-Kirche war ich im April 1967 von der St. Nicolai-Kirche in Wöhrden zu der Bodelschwinghkirche in Lübeck gewechselt, um auch zeitlich den Anforderungen des offiziellen Studiums besser gerecht werden zu können. Zwei Jahre später wurde ich von der mecklenburgischen Landeskirche (durch Bischof Niklot Beste, zu dem ich zeitlebens in bestem, fast familär zu bezeichnenden Verhältnis stand, welches in den Folgejahren von beiden Seiten gleichermaßen auf seinen Sohn Hermann, dem späteren Bischof Beste junior, nahtlos übertragen wurde) an den Ratzeburger Dom berufen.


Von den beiden Bestes pflegte man bezeichnenderweise in Kirchenmusikkreisen zu singen: „So weiß und glaub ich feste, und rühm’s auch ohne Scheu, dass Gott der Höchste, und Beste mein Freund und Vater sei…“ Das kann ich persönlich nur dankbar bestätigen: Sie waren Bischöfe zum Verehren, Bewundern und Liebhaben! So etwas soll es geben! Mein späterer wunderbarer Freund, Bischof Karl Ludwig Kohlwage aus Lübeck, war und ist bis heute für mich persönlich ein ähnliches Kaliber. Großartig! Und ganz zu schweigen von meinem so engen Freunde Bischof Dr. Heinrich Rathke in Schwerin. Bei einem seiner spärlichen Westbesuche habe ich ihn einmal in meine kleine Privatmaschine gesetzt und ihn dann an die damalige Grenze zur DDR pilotiert, so dicht – es war wegen der ADIZ natürlich nicht erlaubt –, dass wir für die sowjetischen Abfangjäger interessant wurden.


Viel später ist unsere Freundschaft auf den Prüfstand gekommen, und sie hat sich gehärtet und bewährt bei gemeinsamen Unternehmungen in Kasachstan. Unvergesslich ein Orgelkonzert in der Philharmonie Alma Ata, in dem zum ersten Mal seit 1917 sich über 1000 Kirchenabgeordnete der evangelischen Gemeinden aus ganz Russland zu einem Festorgelkonzert zusammengefunden hatten – bis dahin war die Kirche verfolgt worden –, ich den Kairos des Augenblicks erfasste, das gedruckte Konzertprogramm unterbrach, und alle Anwesenden aufforderte, zusammen mit der Orgel einzustimmen in den Choral „Nun danket alle Gott“, dann „Lobe den Herrn“ und schließlich „So nimm denn meine Hände“! So etwas hatte keiner der Anwesenden je erlebt. Orgeln gab es für die im weiten russischen Raum verstreuten Gemeinden bis dahin nicht, solche großen gemeinsam singenden Gemeinden auch nicht. Hier war mit einem Male erlebte Communio Sanctorum spürbar: ein bewegender, bis an das Lebensende unvergesslicher Moment!

Von Anfang an war mein Ziel, hier am Ratzeburger Dom ein „Mekka der Kirchenmusik“, so titelte einmal punktgenau die Tageszeitung „Die Welt“ in ihrem Feuilleton, zu schaffen. Auf den drei Schienen a) große Orgelmusik (dafür war erst einmal der Bau von drei hervorragenden Orgeln notwendig), b) beispielhafte Oratorienkonzerte (dafür war erst einmal ein Chor aufzubauen und das Hansische Kammerorchester, die Hamburger Symphoniker und später sogar das Deutsche Bachorchester dem Dom zuzuführen), und c) Ausbildungskurse in Form von alljährlichen Sommerakademien anzubieten sowie mit mindestens einmal monatlich durchgeführten entfalteten Musikgottesdiensten ist dieses weitgehend gelungen. Wenn man die finanziellen Grenzen in Betracht zieht, die noch weitergehende Wünsche nicht ermöglichten, kann man heute bei den Ratzeburger Dommusiken von „wohlbestallter Kirchenmusik“ im anspruchsvollen Bach’schen Sinne sprechen, wie sie als vorbildlich und von vielen erstrebenswert eingestuft wird. Die nahe Zonengrenze, die damals noch Deutschland in zwei Hälften teilte und auch die Mutterlandeskirche vom Dom abtrennte, hatte durchaus unerhörten Einfluss auf das Leben in Ratzeburg und auf die Dommusiken. Jedoch gelang es mir bald, den Dom zu einem einzigartigen musikalischen Treffpunkt von Ost und West in der Bundesrepublik Deutschland zu machen. Künstler und komplette Ensembles aus ganz Osteuropa waren hier immer wieder zu Gast, was damals vor der Wende fast unmöglich erschien und großes Staunen nicht nur in der musikalischen Fachwelt, sondern auch auf politischer Ebene erweckte, sogar ein gewisses Misstrauen beim deutschen Staatsschutz auslöste – beim ausländischen sowieso! –, so dass ich mehr oder weniger offen argwöhnisch von diesen Dienststellen des Innenministeriums bei diesen Ost-Aktivitäten beobachtet wurde. Ich habe mich – nachdem ich schnell diese „Überwachung“ bemerkte, oft sehr gut nach meinen zahlreichen Osteuropareisen mit den betreffenden, sich meist mit falschem Namen vorstellenden Überwachern aus den im Innenministerium angesiedelten Abteilungen angefreundet.







TEIL III

Mit bereits 30 Jahren wurde ich – nicht zuletzt wegen der außergewöhnlichen Erfolge in der „musikalischen Verbrüderung von Ost und West“ – von der mecklenburgischen Landeskirche zum Kirchenmusikdirektor ernannt, dem mit weiten Abstand jüngsten in Deutschland übrigens. Nachdem ich nicht nur meinen Pilotenschein gemacht hatte, um schneller zu meinen Konzertorten in Europa fliegen zu können, sondern auch noch nachträglich das Abitur abgelegt hatte, studierte ich neben der Ausübung aller skizzierten musikalischen Tätigkeiten in einem zeitaufwändigen und anstrengenden Zweitstudium an der Kieler Christian-Albrechts-Universität Theologie, Geschichte und Musikwissenschaft und schloss dieses Studium später mit Promotion ab.

Meine im Studium nicht zuletzt durch meine wohl außergewöhnlichen Leistungen immer mehr und persönlicher wachsende Freundschaft mit dem Professor Dr. Karl-Dietrich Erdmann, der nicht nur ein Freund von Adenauer gewesen war, sondern auch von dem damals amtierenden Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, brachte es mit sich, dass ich ebenfalls zu von Weizsäcker einen hervorragenden persönlichen Kontakt aufbauen konnte. Mehrmals war ich bei ihm in Bonn und in Berlin zu Gast. Er revanchierte sich mit einem „privaten“ Besuch im Ratzeburger Dom, bei dem ich ihm und seiner Frau eine Stunde lang die Domorgel in einem festlichen Sonder-Konzert vorstellen konnte. Immer wieder hat von Weizsäcker sich über die Erlebnisse insbesondere meiner osteuropäischen Kulturaktivitäten erzählen lassen.

An ähnlichen und vergleichbaren Begegnungen mit hohen Persönlichkeiten aus aller Welt mangelt es in meinem Künstlerleben nicht. Aber sie hier alle aufzuzeigen, sprengt den Rahmen und den Sinn dieser kleinen bebilderten Rückschau. Doch nur einmal andeuten möchte ich, welche bewegende Begegnung mir vergönnt war auf einem meiner sechs China-Konzertreisen, als ich zwischen Nanking und Kanton unvermutet – durch einen Busunfall verursacht – die Bekanntschaft der letzten Überlebenden aus der chinesischen kaiserlichen Li-Dynastie machte. Jahrzehntelang habe ich engen, sehr menschlichen bewegenden Kontakt insbesondere zu Li Weih Ying gehabt, die der hochgeistige Mittelpunkt einer außergewöhnlichen gebildeten aristokratischen Familie war. Leider ging der Kontakt (aus politischen Gründen?) verloren.

Neue Orgeln im Dom entstanden in den Jahren 1972, 1978 und 1985. Konzertreisen des Domchores in viele Länder Europas unterstrichen den guten Ruf der Ratzeburger Dommusiken auch außerhalb der Inselstadt. Enge persönliche Freundschaften wuchsen zu Kollegen. Die meisten bestehen bis heute oder wurden nur durch den Tod zerschnitten. Die hohe Risikobereitschaft und brennendes Interesse für die Neue Musik von mir eruierte, dass viele Ur- und deutsche Erstaufführungen zeitgenössischer Kompositionen am Dom ein hiesiges Markenzeichen wurden. Das komplizierte, aber wunderbare halbstündige zwölftönige Orgelwerk über „Nun bitten wir den heil’gen Geist“ – im doppelten Krebs und Spiegel – meines Freundes und Lehrers Prof. Ernst-Gernot Klußmann aus Hamburg erfuhr durch mich in Ratzeburg, Kassel und Frankfurt die allerersten Aufführungen. Auch Klußmanns symphonisches Orgelkonzert für Orgel und Orchester spielten wir im Dom vor ausverkauften Plätzen.

Der sich selbst als Atheist einstufende Ernst-Gernot Klußmann starb kurz nach der Uraufführung der „Heiligen-Geist-Orgelmusik“ mit der bei meinem letzten Krankenbesuch aus meinem Konfirmationsgesangbuch für ihn herausgerissenen Seite des Chorals „Nun bitten wir den heil’gen Geist“ in seiner verkrampften Faust. Unvergeßlich sicher für alle Beteiligten und alle Hörer die Aufführungen der oratorischen, aufwendigen „Apokalypse“ des Hamburger Komponisten Rudolf von Oertzen in Ratzeburg und einige Zeit später – vor hoher politischer und kultureller Prominenz – in Bonn, wo mein enger und geliebter guter Freund Bischof Dr. Hermann Kunst, der so außerordentlich viel für die Ratzeburger Dommusiken getan hat und ohne den die große Domorgel nicht stehen würde, gleichzeitig Einladender wie auch hochgerühmter Ehrengast war. Ich weiß, dass gerade dieser Bonn-Besuch des Chores für einige Chormitglieder von höchster Bedeutung geworden ist.

Doch auch der Alten Musik widmete ich mich intensiv, denn seit 1981 konnte ich als neu berufener Chef des Deutschen Bachorchesters dieses Spitzenensemble auch zu vielen Aufführungen an den Dom holen. Heute (im Juli 2006) bin ich in Deutschland mit 25-jähriger Dienstzeit der am längsten einem einzigen Musik-Ensemble vorstehende und dienende musikalische Chef.

Und während in meiner Hausorgel Zwerghühner unbeeindruckt vom Orgelüben ihre Jungen in einem Nest ausbrüteten, liefen über 38 Jahre permanent in den Sommerwochen die Sommerakademien, zu denen Studenten aus der ganzen Welt zusammenkamen. Außer Schülern aus vielen europäischen Ländern kamen Studenten zu mir als Orgelschüler aus Singapur, China, Australien, Chile, Russland und Island. Meisterkurse in Dirigieren, für Kammermusik, Gesang, Orgel- und Ensemblespielen wechselten einander ab. In manchen Sommerwochen klangen über den ganzen Domhof die Geigen, Flöten und Gesangsstimmen aus jedem zweiten Fenster. Die „Wassermusik“ von Georg Friedrich Händel, aufgeführt auf vom Bundesgrenzschutz aufgebauten Pontons oder auf den Fahrgastschiffen inmitten der Ratzeburger Seen gehörten zum festen Bestandteil der Dommusiken. Bis zu 3.500 Hörer wurden manchmal bei diesen volkstümlichen Veranstaltungen gezählt, die sich am Ufer und auf unzähligen Booten einfanden.

Unter der Ägide des legendären Intendanten Professor Dr. Franz Willnauer, der mit wunderbarer Einfühlsamkeit uns Ratzeburgern am Dom – und Uwe Steffen und mir insbesondere – zu einem echten und beständigen Freund wurde, war die regelmäßige Teilnahme des Ratzeburger Domchores mit spektakulären oratorischen Aufführungen im Schleswig-Holstein-Musik-Festival eine wunderbare und an musikalischen Höhepunkten reiche Glanzzeit. Die von uns in Eigeninitiative und mit eigenen Vorstellungen eingebrachten und in der Intendanz auch gerne akzeptierten Programme gehörten ganz zweifelsohne zu den Spitzenkonzerten des Schleswig-Holstein-Musik-Festivals und haben uns gegenseitig zur Ehre gereicht.

Ich erinnere mich an eine kleine bezeichnende Begebenheit: Prof. Dr. Franz Willnauer, Uwe Steffen und ich saßen in einem Waldrestaurant in Ratzeburg zu einem guten Essen, interessanten Gesprächen und noch hervorragenderem Wein zusammen. Letztem hatten wir reichlich und lange zugesprochen. Um ein Uhr nachts schlug ich vor, im Dom ein kleines Privatorgelkonzert zu geben. Während der Uwe und der Franz im Chorgeviert Platz nahmen, schlich ich durch die fast dunkle Kirche und spielte, so gut es die Finger nach den etlichen Flaschen genossenen Weines hergaben. Der Abend schloss, wie er in Ratzeburg schließen muss: Ein Treffen am Rauschwerk der Orgel besiegelte den Tag, und ich sagte zu Willnauer: „Ist es nicht erstaunlich, wie fehlerfrei ich noch spielen kann, wenn ich betrunken bin?“ Darauf seine unvergessliche Replique: „Und ist es nicht erstaunlich, wie fehlerlos ich im betrunkenen Zustand noch zuhören kann?“ Das war er: Franz Willnauer. Schade, dass er ging, schade für ganz Schleswig-Holstein! Leider setzt der heutige Intendant Beck – möglicherweise absichtlich? – unakzeptable Prämissen, die eine Mitwirkung des Ratzeburger Doms aus unserer Sicht absolut ausschließen. Die herrliche Willnauer-Ära ist für Schleswig-Holstein sowieso nicht zu wiederholen.

Für uns als Veranstalter der Dommusiken war das alles zu Zeiten, als sowohl die Stadt Ratzeburg, aber auch alle betroffenen Domgremien samt dem engagierten und musikbegeisterten Domprobsten Uwe Steffen sich aktiv und konstruktiv bei der Durchführung der Sommerakademien und der Dommusiken unterstützend engagierten und sie zu ihrer eigenen Sache machten, ebenso wie für die Pflege der vielfältigen und möglichst hochqualitativen Dommusiken im Laufe des ganzen Jahres mit internationalen großen Ensembles. Tempi Passati! Von einer beschämenden Kleingläubigkeit, einem künstlerischem Desinteresse und einer tödlichen Pfennigfuchserei ist heute die „Mitwirkung“ dieser genannten Gremien bestimmt. Als Domkirchenmusiker ist man heute weitgehend zum Einzelkämpfer geworden, der mindestens ebenso viel Zeit verwenden muss, von außen die notwendige Unterstützung einzuwerben, als nach innen in den eigenen Reihen zu kämpfen und zu überzeugen zu versuchen. Überzeugen tut allerdings letztendlich nur hervorragende künstlerische Arbeit. Und die wird geleistet, mit Herzen, Mund und Händen!

TEIL IV

Von vielen Konzertreisen müde heimkehrend, konnte man sich im Garten des Domorganistenhauses, welches in den zurückliegenden Jahrhunderten jeder Domorganist in Anerkennung seiner oft sehr langjährigen Dienste und Verdienste erst dann zu verlassen brauchte, wenn er mit den Füßen zuerst herausgetragen wurde – auch das ändern die heute im Amt befindlichen Domgremien ohne jegliche Würde und ohne eine Spur von Dankbarkeit –, konnte man sich also gut erholen, in lebendiger Gesellschaft der eigenen Familie, aber auch in turbulenter Gesellschaft mit lammfrommen Schafen, Wildgänsen, Esel, Ponys und Wildenten, Pfautauben und anderem Getier. Einmal sind uns Esel und Ponys durch die offenen Portale in den Dom entwischt, wo die erschrockenen Besucher ein eiliges „Gottseibeiuns“ in den Himmel jagten, als die Tiere unvermutet an ihnen zwischen den Säulen vorbeifegten und, verfolgt von uns, durch die Kreuzgangtür wieder ins Freie und in den Klostergarten flüchteten. Manchmal wurden Chor- und Orchesterproben, Gottesdienste und sogar manchmal Konzerte vom Feueralarm jäh unterbrochen, wenn es für den Domkirchenmusiker, der gleichzeitig Feuerwehrmann an erster Stelle war, hieß: Menschen ist in Not zu helfen! Da gab es nie ein langes Überlegen.. Domprobst Uwe Steffen könnte davon sicherlich mehrere Lieder singen in Paul-Gerhardt-verdächtiger Länge und in farbiger Mehrstrophigkeit!

Viele Orgelkonzertreisen und Gastdirigate in alle Welt füllten die übrige Zeit reichlich. Von Omsk, Alma Ata und Moskau bis London, Oxford und Edinburgh, von Trondheim und Oslo bis Mailand und Venedig, von Paris bis Prag, von Warschau bis Madrid, von Hongkong bis Calgary und Montreal, von New York bis Singapur, Monrovia bis Buenos Aires und Santiago de Chile, von Königsberg über St. Petersburg bis Helsinki und Rovaniemi, und auf der anderen Seite wieder runter bis nach Santiago de Compostela, Porto und Lissabon, um nur einige wenige Beispiel zu nennen, wurde von mir der Dirigentenstab geschwungen, die Orgelpedale bedient und die Orgelpfeifen hübsch dosiert mit Luft versorgt. Des Öfteren waren auch angetragene Gastdozenturen und Gastprofessuren Anlass zu solchen Reisen. Und dabei wurden immer wieder befruchtende künstlerisch sich auswirkende Verbindungen zum Ratzeburger Musikzentrum am Dom hergestellt. Es hat – man soll es nicht glauben – Zeiten gegeben, in denen sogar die Mitglieder des Domkirchgemeinderates immer wieder gerne ausländische Künstler aus Argentinien, Polen, Russland usw. als Gast aufnahmen und versorgten und damit solche teuren Einladungen von Musikern aus anderen Kulturkreisen finanziell ermöglichen halfen, oder sie sogar privates Geld spendeten.

Viele neue eigene Kompositionen von mir wurden aufgeführt in den 38 Jahren, und mehr und mehr auch gedruckt und herausgegeben. Der Hänssler-Verlag in Stuttgart war das zunächst, dann aber vor allem – bis heute hin – nimmt sich der renommierte Merseburger-Verlag in Kassel mit der außergewöhnlichen und risikofreudigen und künstlerisch wie menschlich hochsensiblen Verlagschefin und zur Freundin gewordenen Birgit Matthei in vorbildlicher Weise der Drucklegung vieler meiner Werke an, und mit Freude erlebe ich die Verbreitung meiner „musikalischen Kinder“ in immer mehr Orten und Ländern nicht nur innerhalb Deutschlands. Sehr erstaunte zuerst und freute mich sodann ein Ausspruch meines Notensetzers Johannes Schlesinger in Hamburg, welcher auch engagiertes Mitglied und Orchesterdirektor des Deutschen Bachorchesters ist, der zu einem älteren Stück  in einem Sammelband mit Chorwerken aus über dreißig Jahren, dem sogenannten „Ratzeburger Chorbuch“ opus 70, bemerkte: „Das, was Du da in Wöhrden im Jahr 1960 ohne jedes Studium geschrieben hast, klingt ja schon genau so wie das heute Komponierte! Wieso hast Du eigentlich studiert?“ Er schlug mit diesem eher unbewussten, ironisch gemeinten Ausspruch unmerklich einen großen, verbindenden Bogen über 50 Jahre Komponisten – und Musikerdasein.

Dem Komponieren widme ich in Zukunft wohl mein Hauptaugenmerk, wenn ich hier einmal das beglückende Familiäre vor allem mit meiner warmherzigen, hochmusikalischen Frau Katrin und dann ebenfalls mit all meinen begabten Kindern Agnes, Cora, Jirka und Vincent ausklammern darf, und mich nur auf das Musikalische beschränke: Es warten viele halbfertige Manuskripte in der Schublade ebenso auf ihre Vollendung wie neue große Werke, zum Beispiel die „Kosmische Parabel“, die schon jetzt dem großherzigen Förderer und Freund Winfried Stöcker  gewidmet ist. Doch stehen daneben bereits jetzt wieder wie in alten Zeiten reichlich Einladungen als Gastdirigent an internationale Opernhäuser und an die Pulte bedeutender Symphonieorchester wie auch als Orgelvirtuose zu bekannten Orgelfestivals ins Haus. Wer auch nach so einem musikalisch anspruchsvollen Leben in Ratzeburg, in dem man mit vollen Händen und freigiebigst ohne jede Zurückhaltung an alle Hörer von nah und fern das Füllhorn bemüht vollendet dargebotener Musik ausgeschüttet hat, selbstzufrieden ausschließlich nach hinten schaut, sieht nur seinen Schatten. Nach vorwärts blicke ich – in die helle Sonne einer hoffnungsreichen Zukunft, zusammen mit meiner so künstlerisch begabten und menschlich tief verständnisvollen Frau Katrin. Es bleibt mir noch so viel zu tun, und – das ist das Wichtigste – ich tue es bis heute gerne und kompromisslos leidenschaftlich: Musik machen! Gerne hätte ich sie weiter auch hier an „meinem“ Dom gemacht, mit meinen mir ans Herz gewachsenen fabelhaften Ensembles, insbesondere dem unvergleichlichen Domchor, dem auch das „Ratzeburger Chorbuch“ opus 70 und das Oratorium „Christus natus est hodie“ opus 24 als Dank und Vermächtnis gewidmet ist, und weiter an „meinen“ von mir gebauten Orgeln zu spielen, Orgeln, von denen ich jede einzelne Pfeife kenne. –

Doch man leidet mich von den sogenannten „Kirchenoberen“ nicht länger! Uwe Steffen, dieser unvergessliche großartige Ratzeburger Domprobst und deutschlandweit bekannte Theologe, sprach in Trauungen oft zum Brautpaar: „Man muss sich leiden können! – leiden auch im Sinne von er-leiden, damit alles gute Frucht bringe! Das nennt man dann auch Liebe.“ – Diese Liebe ist mir am Dom in meinem Beruf seit Jahren nicht mehr vom Domkirchgemeinderat samt Domprobsten vergönnt gewesen. Man kann mich nicht länger leiden! –

Ist nicht ein bezeichnender Hinweis auf diese negative  Einstellung des Domkirchengemeinderats unschwer erkennbar auch für jeden Außenstehenden, dass nämlich im Wissen, dass seit 38 Jahren ein repräsentatives Programmbuch verlegt wird, und dieses in diesem Jahr zum letzten Mal sein wird unter meiner Federführung, niemand zwei Seiten oder wenigstens eine Seite oder eine halbe vielleicht, aber doch zumindest eine Zeile, nein, nur den Platz, den das Wort DANKE benötigt, vorbestellt hat, um einen für alle Hörer der Ratzeburger großen Musikgemeinde erkennbaren schriftlichen Dank abzustatten?

Nun, mich wundert es nicht! (Wie gesagt: Ich kenne doch alle Pfeifen. Und außerdem: Wieso Dank abstatten? Der Mann ist doch für seine in der Dienstanweisung festgelegte absolvierte Pflicht nach BAT bezahlt worden!) Zum Vergleich: Nach 25-jähriger Dienstzeit am Dom bestellte der damalige Domprobst Uwe Steffen beim Drucker 20 – 30 von ihm dann sogar auch vom Kirchgemeinderat privat bezahlte Seiten für das in Arbeit befindliche Programmheft vor, die dann in seinem Auftrag und unter seiner Obhut heimlich ausgefüllt wurden mit Dankesbeiträgen, die ich dann erst nach dem Druck zu sehen bekam. Ich habe mich damals doch sehr gefreut! Das nenne ich Anstand. Das nenne ich Dankbarkeit. Das hatte Niveau! Da wurde die außergewöhnliche musikalische Arbeit am Ratzeburger Dom nicht für selbstverständlich genommen, sondern als das eingeordnet, was es eigentlich ist und bis heute war: Ein kleines unverdientes Wunder und Geschenk!

Epilog:

„Door is keen Musik nich! Door is keen Musik nich! Uns’ Orgelspeeler is eenfach wegbleeven! Du schallst forts röverkaamen!“

Nein, es war kein Aprilscherz, wie man mutmaßen könnte, als am Ostersonntag, den 1. April 2009, kaum, dass die den Gottesdienst einläutenden Osterglocken verstummt waren, urplötzlich der Küster unseres Ratzeburger Doms Björn Sacker atemlos in das Kantorat Domhof 14 gestürzt kam. Es war zudem am Tag meines heute feierlichst zu begehenden 40. Dienstjubiläums als Domkirchenmusiker in Ratzeburg.

Nein, es war kein Aprilscherz, sondern ein unruhiger, aber schöner Traum gewesen, der wie eine wunderbare schillernde Seifenblase jäh zerplatzte, ein Traum, aus dem ich jetzt schweißgebadet, verwirrt und atemlos aufwachte. Ich machte das Licht an und sah auf die Uhr. Sie stand still!

Es war auf dem ganzem Domhof fünf Minuten nach zwölf!