Lübecker Nachrichten: Herr Bethke, wie sind Sie zur Kirchenmusik gekommen?

Neithard Bethke: Mein Vater war Pastor in Wöhrden in Dithmarschen, in der Dorfkirche bin ich schon als Zweijähriger über die Pedale der Orgel gekrabbelt, wenn der Dorforganist spielte. Meine Mutter war Klavier-Lehrerin – so kam das alles wie von selbst zusammen.

LN: Sie haben dann sehr früh eine erste Stelle gehabt.

Bethke: Mit 13 Jahren an der St. Nicolai-Kirche in Wöhrden, das war meine erste feste vertragliche Anstellung als Kirchenmusiker.

LN: Hat das Orgelspiel Ihre Kindheit geprägt?

Bethke: Auch, aber nicht ausschließlich, ich habe wie alle Kinder auch gerne Indianer und Cowboy gespielt, das war spannender als Orgelüben. Regulären Unterricht habe ich auch erst mit 18 bekommen, bis dahin habe ich mir fast alles selbst beigebracht. Und Improvisieren konnte ich damals schon so gut, dass mir das Notenlernen geradezu lästig war.

LN: In Lübeck an der Musikakademie war dann der Marienorganist Walter Kraft Ihr Lehrer.

Bethke: Kraft war damals nicht mehr Lehrer an der Musikakademie, ich habe intensiv nebenbei mit ihm gearbeitet, er  hat mich sehr geprägt, überhaupt die „Kirchenmusikstadt“ Lübeck, die es damals noch gab. Auch Erwin Zillinger, Domorganist, war mir ein besonderer  Lehrer und ein Vorbild, eine Komposition von ihm gehört noch immer zum Repertoire meines Chores hier in Ratzeburg.

LN: Sie haben in Lübeck an der Bodelschwingh-Kirche die zweite richtige Stelle gehabt, dann kam 1969 die Berufung an den Ratzeburger Dom. Was für eine Situation haben Sie an der Kirche vorgefunden?

Bethke: Einen ganz frisch und wunderbar restaurierten Dom vor allem. Musikalisch gab es nichts außer einer quietschenden Kemper-Orgel, die nichts taugte, es gab keinen Domchor, keine Noten-Bibliothek, kein Instrumentarium und auch keine Tradition. Und da habe ich mir gedacht: Da bin ich als Dithmarscher genau der richtige. So konnte ich die Dom-Musik von Anfang an ganz allein nach meinen Vorstellungen prägen.

LN: Der Bau der neuen Orgel ist nicht ohne Reibereien abgegangen.

Bethke: Richtig. Den größten Ärger gab es darum, eine Beton-Empore wieder abzureißen, die man gerade bei der Restaurierung in den romanischen Backstein eingefügt hatte; das hat unendlich lang gedauert.

LN: Noch mehr Orgel-Ärger?

Bethke: Der zweite Ärger war, dass kein Geld da war, man wollte mir deshalb nur eine kleine Orgel irgendwo an der Seite genehmigen. Ich habe mich aber durchgesetzt, die Dom-Orgel ist eine der besten Orgeln unserer Zeit überhaupt geworden, wie der berühmte Konzertorganist Peter Hurford immer betont.

LN: Wie haben Sie die Sänger für Ihren Chor gefunden?

Bethke: Ich habe schon drei Monate vor meinem Amtsantritt begonnen, Sängerinnen und Sänger hier in Ratzeburg zu suchen, als ich am 1. April 1969 mein Amt angetreten habe, hatte ich 30 zusammen. Mit 30 weiteren aus Lübeck aus meinem alten Chor haben wird dann am 4. April Bachs Johannes-Passion aufgeführt. Eine erste Sensation für die Ratzeburger!

LN: Ist es heute noch so, dass die wenigsten Sängerinnen und Sänger aus Ratzeburg kommen?

Bethke: Das stimmt, zwei Prozent sind aus der Dom-Gemeinde, zehn Prozent sind aus Ratzeburg, der Rest kommt aus der näheren und weiteren Umgebung von Kiel bis Hamburg. Und alle sind jeden Mittwoch zur Probe anwesend.

LN: Wie haben Sie die Chor-Sänger gebunden?

Bethke: Man muss ihnen Futter und anspruchsvolle musikalische Aufgaben geben, nicht nur Schütz-Motetten, sondern auch Mahlers 2. Sinfonie oder Werke von Janácek und Strawinsky.

LN: Oder Werke aus Ihrer Feder.

Bethke: Komponieren habe ich für mich von Anfang an  als eine der wichtigsten Aufgaben angesehen. Karl Amadeus Hartmann ist als Komponist eins meiner Vorbilder – und ich habe einen Chor, dem Dissonanzen nicht fremd sind und mit dem ich meine Musik glänzend aufführen kann, zuletzt am Karfreitag und am Ostersonntag mit einer Uraufführung,.

LN: Sie haben sich auch persönlich finanziell stark engagiert.

Bethke: Stimmt, ich habe auch oft Schulden gehabt, wenn ich Konzerte finanziert habe. Es ist mir aber fast immer gelungen, Sponsoren zu finden, da war ich sehr penetrant den Firmen gegenüber. Habe aber uch viel Verständnis und kulturelles Verantwortungsbewusstsein bei „Gönnern“ gefunden.

LN: Es gab auch Ärger mit dem Finanzamt wegen nicht abgeführter Steuern für Ihre Partner-Chöre aus Schweden und Polen.

Bethke: Nur zu Anfang. Von dieser Verpflichtung hatte ich nichts gewusst, da gab es eine große Nachzahlung. Später wurde uns dann auf Antrag zumindest gelegentlich eine Steuerbefreiung zuerkannt.

LN: Sie gelten als streitbarer Mann, und Sie verlassen den Ratzeburger Dom im Streit.

Bethke: Ich streite mich nur, wenn ich für eine Sache kämpfe, die ich für wichtig und gut befunden habe, und auch dann ,  wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, und das ist jetzt am Dom in höchstem Maße der Fall.

LN: Warum?

Bethke: Ich, mein Domchor, mein Deutsches Bachorchester, wir  fühlen uns nicht ernstgenommen mit unserer Arbeit, man hat mir in keiner Form ausreichende Finanzhilfen geleistet, meine ganze Arbeit in den vergangenen 39 Jahren zählt plötzlich nichts mehr. Ich möchte sagen, die Arbeit von fast 40 Jahren ist durch das unglaubliche Verhalten der Domkirche innerhalb von vier Jahren in Frage gestellt.

LN: Sie wären nich gerne länger im Amt geblieben?

Bethke: Sehr gerne sogar, einige Jahre noch. Jetzt muss ich befürchten, dass hier musikalisch alles zusammenbricht, nicht, weil  nicht ich weiter mache, sondern weil ein Nachfolger, es ist der Domorganist von Freiberg, unter diesen administrativem schlechten Voraussetzungen am Dom vielleicht nicht die Kraft und das Durchsetzungsvermögen hat, um die musikalische Tradition auf diesem ho0hen und höchsten Niveau fortzuführen., das tut mir in der Seele weh.

LN: Sie werden Ratzeburg verlassen?

Bethke: Auf jeden Fall. Man soll man einem Nachfolger auch geographisch nicht im Wege stehen. Ich wünsche ihm und der Ratzeburger Dommusik eine gute Zukunft. Aber auch: Den herrlichen Dom zu sehen, von dessen Administrative ich in den letzten Jahren soviel Undankbarkeit und Verletzungen erfahren habe, das wäre zu schmerzlich.