SCHULE - ERINNERUNGEN

Zittau, den 26. Oktober 2012
Lieber Dieter,

heute mal keine Drucksache, sondern einige private Zeilen an Dich: Wieweit Du die in der Krabbe verwenden willst oder sie tunlicher Deinen Papierkorb anvertrauen, ist Dir freigestellt. Durch eine zwingend notwendige dreistündige Armoperation (alter Feuerwehr-Menschen-Rettungsunfall, der sich wieder schmerzhaft bemerkbar machte) komme ich zur Zeit nicht zum Klavier- und Orgel-Üben und nutze - außer daß ich natürlich emsig am Komponieren bin - die Zeit zu diesem Schreiben.

Lieber Freund und Lehrer!

So ließ Johannes Gillhoff in seinem „Amerikafahrer" den Jürnjakob Swehn seine Briefe in die Heimat anfangen. Und so fange ich heute auch an. Ein Lehrer warst Du mir ja nachweislich, ein ziemlich guter sogar, und ein Freund bist Du mir im Laufe der letzten Jahre immer mehr geworden, und ich bewundere Deine großartige Betreuung der Ehemaligen des Gymnasiums nicht zuletzt kraft Deines enormen, phänomenalen Gedächtnisses!

Ja, die Ehemaligen! Nicht selten werde ich von irgendjemanden (meistens kann ich mich nicht einmal der Namen erinnern, geschweige denn mir eine Vorstellung davon machen, wie der Kontaktsucher/in früher ausgesehen haben mag) angeschrieben oder telephonisch angefragt und darauf aufmerksam gemacht, daß wieder ein Ehemaligen-Abiturtreffen zu dem oder dem Zeitpunkt geplant oder bereits angesetzt ist an dem oder dem Ort in Büsum, zu dem ich natürlich kommen müßte.

Da komme ich in deswegen große Schwierigkeiten, weil ich mich gar nicht einzuordnen weiß, zu wem ich mich eigentlich zugehörig fühlen müßte, denn da gibt es folgendes Faktum zu berücksichtigen:

1) Ich habe am Gymnasium in Büsun niemals Abitur gemacht. Ergo bin ich bei einem Abiturveteranentreffen sowieso falsch am Platze.

2) Ich bin am Gymnasium in Büsum dreimal sitzen geblieben. Zu welcher der drei in Frage kommenden Jahrgänge soll ich mich hingezogen fühlen? (Wir waren manchmal drei Bethkes in einer Klasse, und es geht die Saga, daß in den Lehrerkonferenzen darum geknobelt wurde, welche von den Bethkes man sitzen lassen solle, eigentlich wären alle dran, aber das könne man dem armen Dorfpastor in Wöhrden nicht zumuten.- Nur eine Lehrerin ist uns eine Zeitlang auf dem Leim gegangen, als wir mit ernstem Gesicht überzeugend behaupteten: Wir sind Drillinge! Das war Frau Maron, die leider keinen Humor bewies, als sie die Wahrheit herausbekam. Wir haben sie aber für die an uns in ihrem Englischunterricht ausgelassenen Humorlosigkeit bestraft. Schüler ganz allgemein und Bethkes im Insbesonderen können ja so gemein sein!)

3) Drittens und nicht letztens weiß ich gar nicht, was ich bei so einem Treffen, wenn ich denn dabei wäre, erzählen sollte?

Von alten Zeiten in der Schule? Da weiß ich nur von ganz wenigen mir erinnerlich gebliebenen „Nebenkriegsschauplätzen" zu berichten, die, weil sehr privat, niemanden interessieren.
Dann also von meinem Beruf? Noch weniger interessant und nachzuempfinden für Außenstehende, weil sich das Wesentliche in nicht anfaßbaren geistigen Bereichen abspielt.

Also gut, dann könnte man ja, wie es laut Umfragen 70 % der über 65-jährigen Ruheständler handhaben, von seinen Krankheiten reden oder Vergleiche anstellen, welche Medikation und Behandlungsweise totsicher („Todsicher", ja, was nun?) eben am schnellsten zu eben „diesem Ziel" führen würde. Nun, da hätte ich einen ganzen Pack zu berichten, jedoch verhindert mir gerade dieses der Umstand, daß ich mich noch nie über meine Krankheiten definiert habe.

Also: bei einem Veteranentreffen wäre von meiner Seite das berühmte oft zitierte „Schweigen im Walde" angesagt. Nee, das ist nichts für mich! Doch damit zumindest Du meine Sicht- und Denkweise verstehen kannst, werde ich Dir von einigen der oben erwähnten „Nebenkriegsschauplätzen meines gymnasialen Schulbesuches" erzählen:

Da fange ich doch gleich einmal bei Dir, Dieter, an, mit Verlaub: Dein Geschichtsunterricht hat mich schon als kleiner Pennäler fasziniert, natürlich wie ebenso der Stoff. Vielleicht war das nicht unwichtig, daß ich später im Zweitstudium auch noch Historiker wurde, mit dem Schwerpunkten Hanse und 20. Jahrhundert. Der berühmte Prof. Dr. Erdmann in Kiel wurde regelrecht mein Freund und in seinem Haus ging
ich ein und aus und selbstverständlich habe ich später seine Beerdigung ebenso wie die seiner Frau „beorgelt"- Ehrensache! In oben erwähnten Fachgebieten bin ich mit allen Wassern gewaschen, habe mehrere Abhandlungen und Aufsätze und Kommentare geschrieben, die zum Teil auch universitätsintern veröffentlicht wurden. Jedoch kann ich auch eine sehr schöne Arbeit über Rousseau als ediert vorweisen. - Und gerade jetzt in diesen Tagen treffe ich in Dresden mit ehemaligen NVA-Offizieren zusammen, die an der damaligen Ost-Heeres-Offiziersschule „wissenschaftlich" die gegenseitige Abhängigkeit von „Sozialismus und Frieden" propagierten bzw. argumentierten und deren (zugegeben vorgeschriebene) einseitige Sichtweise unglaubliche Blüten in den angestrebten Dissertationen getrieben hat. Und das soll ich nun rezensieren! Das wird eine interessante Diskussion geben, der ich mich allerdings sehr gewachsen fühle.

Als Du, lieber Dieter, den Deutsch-Unterricht übernahmst, war das für mich persönlich eine große Umstellung: Nachdem ich eine 1 nach der anderen abgesahnt hatte bei Mutti Oetke als Deiner Fachvorgängerin, deren Vorliebe für etwas blumige Artikulation ich trefflich zu erfüllen wußte, kamst Du mit einer nüchternen und zweckdienlichen Forderung der Ausdrucksweise in den Aufsätzen. Bei Dir habe ich es nie bis zu einer 1 geschafft, nur einmal eine 2, als ich über Nietzsche etwas schreiben mußte – Du erinnerst? - und unter meinem Aufsatz stand: „Zumindest leidenschaftlich engagiert ins Thema gefunden!" . Um diesen umwälzenden Stil-Unterschied einmal plastisch an einem Beispiel zu verefizieren: Die fingierte Aufgabenstellung: Nordseedeich, Funktion und Notwendigkeit – dann hieße es bei mir für Mutti Oetke etwa so: „Von der mich überglücklich über alles Niedere erhebenden Erhöhung des Deiches aus sehe ich nach hinten ins dithmarscher Flachland hinüber, meiner heiß geliebten Heimat, in der ich groß geworden bin und die so sehr in ihrer herben Natürlichkeit meiner eigenen Natur identisch ist, in der alle Bäume nach Osten gerichtet sind vom ewigen Westwind, seewärts aber dann als notwendiges Gegengewicht die Unendlichkeit der grauen Wellen, die am Fuße des das Städtchen und das dahinter liegende Land schützenden Deiches an die Ufersteine plätschern. Kaum vorzustellen, daß „Trutz Blanker Hans", sich einmal gischtbekrönt bis zu der Deichkrone herauf fressen würde können! Nein, friedlich gebärt sich heute Mutter Natur: Das raunende Plätschern des Wassers vermischt sich mit dem gellenden Gesang der silberfarbigen Möven und dem
jauchzenden Jubilieren der hoch auffliegenden Lerchen zu einer polyphonen Symphonie, die einen ehrfürchtig die Natur bestaunen läßt, eingeschlossen der Kiebitze, die im nichtgemähten und noch nicht von lustigen Lämmern abgegrasten Grasnarbe ihr Eier legen. In meinen vor Rührung feucht werdenden Augen leuchtete die Freude und im Hintergrund die untergehende sich gerade rotfärbende und an Bilder von Emil Nolde erinnernde Abendsonne, die sich im gekräuselten Salzwasser unwirklich, ja träumerisch zu einem farbenreichen Tuschkasten reflektiert" ... usw. usw .

Bei „Nikosch" mußte es zweckdienlich- zweckdienlich im Sinne von Erhaschung einer guten Zensur – heißen: „Der Nordseedeich hat eine flach ansteigende Krümmung zur Seeseite hin, damit sich eine etwaige Sturmflut totlaufen muß, nach hinten allerdings fällt er steil ab, da von hinten her keine Wasserfront zu erwarten steht. Die Höhe des Deiches richtet sich nicht etwa danach, ob man nach allen Seiten weit genug sehen kann, sondern nach der Höhe der zu erwartenden Wasserlinie auch bei Sturmfluten. Wenn auch zum Beispiel am Abend sich bei untergehender Sonne dem auf dem Deich stehenden Betrachter ein imposantes Naturbild vor den Augen entrollen könnte, trügt es nicht darüber hin: dies hier ist ein notwendiger, nach jahrhundertelangen Erfahrungen und mit mathematischem Kalkül errichteter Schutzdeich, der eine wichtige Funktion zu erfüllen hat." Punkt!

Auch meine Liebe zum Alt- und Mittelhochdeutschen hast Du damals geweckt. Und ich könnte sowohl „Ick gehorta dat seggen, dat sik urhettun Hiltibrant enti Hadubrant gimihalter sunu" aus dem Stegreif zitieren wie Verse aus dem Hildebrandlied oder der Edda. Und auch musikalisch zog ich aus dieser intimen Kenntnis Profit. Heißt es doch beispielsweise in dem berühmten Lied von Heinrich Isaac „Innsbruck, ich muß dich lassen" in der letzten Zeile der ersten Strophe: „...daß ich im Elend bin." So kann ich meinen Chören erklären, daß nicht das heutige Elend gemeint ist, sondern im Mittelhochdeutschen „Elend" als das „Gegenteil von Heimat" definiert ist, also Fremde. Deswegen ist der Sänger bei Isaac traurig, daß er in die Fremde gehen muß und Innsbruck verlassen .

Bleiben wir bei dem Fach Deutsch. Da fällt mit Gerd Warncke ein, übrigens einer der wenigen Lehrer, zu dem die persönliche Verbindung bis heute steht, (er besucht jedes Konzert, was ich in meinem Heimatdorf
Wöhrden gebe!). Ich erinnere eine etwas blamable Situation für mich: Wir hatten Gedichte zu lernen und dann im Unterricht vorne vor der Klasse aufzusagen. Das war für mich, wie immer  in der letzten Reihe sitzend, wo ich meinte, am besten ungestört meine mir wichtigen Musikaufgaben zu erledigen unter der Bank, eine prima Stunde, denn während die Schulkameraden /innen vorne irgendetwas plapperten von Herrn Johann Wolfgang von Goethe, war genügend Zeit, mich in die Analyse der ersten Fuge von Johann Sebastian Bach aus seiner „Kunst der Fuge" zu vertiefen. Plötzlich wurde meine Beschaulichkeit gestört. Herr Warncke, der übrigens auch immer ein großes Verständnis für meine Musik-interessen gezeigt hat und viel Rücksicht walten ließ, rief mich auf, ebenfalls nach vorne zu kommen und ein Gedicht von Goethe aufzusagen. Ich war noch ganz verheddert in meiner Analyse, strich irgendwie durch die Stuhlreihen nach vorne und fing an: Titel des Gedichts (habe ich vergessen) von „Johann Sebastian..." Weiter kam ich nicht. Erstens weil ich selbst aufwachte, zweitens weil das höllische Gelächter aus der Klasse mir entgegen schallte, während ich mit rotem Kopf Mühe hatte, meine Tränen zu unterdrücken: Ich weiß aber noch ganz genau: Eine in der Klasse lächelte eher sehr verständnisinnig: das war Edelgard Penther (heute heißt sie leider Koch), die mich übrigens öfter bestärkte, von zu Hause wegzugehen und keine Zeit mehr zu verlieren und Musik zu studieren. Das habe ich ihr bis heute nicht vergessen und sie habe ich auch nicht vergessen. Sie ist eine der ganz ganz wenigen Mitschüler, zu denen die Verbindung immer bestanden hat.

Apropos die oben erwähnte Letzte Reihe: Auch da gibt es eine kleine Begebenheit, die mir sehr gut erinnerlich ist: Herr Menger, unser Mathematiklehrer, erklärte einem begriffsstutzigen Mitschüler vorn an der Wandtafel irgend eine schwierige Gleichung, und zeichnete diese mit schwungvollem Kreidestrich auf und endete sowohl seine mich an Picasso erinnernden Hieroglyphen als auch seine Erklärung mit den kraftvollen Worten: „...und hier hinten haben wir noch eine ganz große Null!"
Worauf ich laut nach vorne replizierte: „Danke. Vielen Dank!"

Herr Menger war immer schlagfertig, doch hier blieb ihm zunächst die Spucke weg. Dann drehte er sich langsam um und ironisierte: „Ach nee, der Bethke, sieh an, sagt der im Mathematik-Unterricht tatsächlich auch einmal etwas Richtiges!"

Einmal gab mir Herr Menger genüßlich lächelnd eine Mathematikarbeit in coram publico wieder. Nee, genauer gesagt, es war nicht die mit 6 benotete Mathematikarbeit, sondern deren mir aufgetragene Berichtigung. „Karlchen" Menger hielt das aufgeklappte Heft hoch, daß jeder die voll mit roter Tinte kommentierten mathematischen Berichtigungsversuche von mir sehen konnte. O-Ton Menger: „Und das hier ist nicht etwa die Mathematikarbeit, wie man glauben möchte, und die eine glatte 6 war, sondern deren Berichtigung! Bethke, das machen Sie noch einmal!" Dann warf er mir das Heft wie einem Hund den Knochen vor die Füße: und während der mitfühlende Mitschüler Hans Jörg Nagel neben mir flüsterte: „Nicht heulen, das will er doch nur!", sammelte ich verzweifelt mein Heft auf. Ich habe übrigens nie eine Berichtigung der Berichtigung gemacht, da ich sie nicht hätte besser machen können, trotz des zeitweiligen Nachhilfe-unterrichtes bei Edelgard, deren hervorragende mathematisch- pädagogischen Ergebnisse ich fein säuberlich zu Hause in einem von ihr weise belächelten sogenannten „Mathematik-Hauptbuch" in Schönschrift zusammen faßte. (Das sorgsam gehütete schwarze dicke Buch habe ich ihr vor einiger Zeit vermacht!) - Ich konnte mit diesen komischen Angelhaken (sie heißen glaube ich Integralzeichen) partout nichts anfangen, zumal ich gerade dabei war, mir ähnlich anmutende Versionen, nämlich den Bratschen- und den Tenorschlüssel zu verinnerlichen. Das Mathematikheft habe ich übrigens heimlich auf dem alten Schulhofgelände hinten links bei der Weitsprungstelle vergraben, und wenn es nicht geklaut oder vom Marder gefressen worden ist, so lebt es heute noch und dann fährt heute vermutlich die auf dem ehemaligen Schulgelände jetzt ansässige Freiwillige Feuerwehr Büsum bei ihren Löschübungen über dieses damals zumindest für mich brandheiße Objekt.

Die Musik hatte mich damals gepackt und auch das intuitive Gefühl, daß es zu spät sein könnte, denn „was Hänschen nicht lernt..." usw. So nutzte ich auch mutig und verbissen etliche offizielle Schulzeit dafür, Orgel zu üben, heimlich und streng methodisch. Morgens, wenn die anderen Fahrschüler links herum aus dem Bus kommend zur Schule herum schwenkten, tat ich das gleiche rechts herum, ging zur Büsumer Fischerkirche hinauf, schloß mit dem mir von dem sehr verständnisvollen Pastor Zarnack überlassenen Zweitschlüssel die Tür auf und hinter mir wieder zu und hatte jetzt Zeit bis 13 Uhr, Orgel zu üben. Dann ging es den gleichen Weg zurück und mit dem Bus wieder nach Hause. Mein Bruder Rüdiger, der diese Geschichte viel besser, illustrativer, spannend und

fesselnd und abendfüllend erzählen könnte, wurde mehrmals in der Schule gefragt: „Kommt denn Neithard gar nicht wieder? Ist er krank? Ja, was ist denn eigentlich!" usw., worauf der immer nur sagte: „Keine Ahnung!" Dann knallte es dieserhalb irgendwann ganz fürchterlich. Aber: Einige Wochen später machte ich extern mein erstes Kirchenmusikexamen am Schleswiger Dom, ein Examen, welches man normaler Weise erst nach 4- 5 Semestern ordinären Studiums an der Musikhochschule macht. Ich machte es übrigens mit einer glatten 1.

Diese 1 hätte ich gerne mal Herrn Menger gezeigt, oder Herrn Kauder, von dessen gesamten Lateinunterricht mir nur die oft von ihm zitierten „res effeminandos" erinnerlich sind, (das sind die die Söldner der römischen Heerscharen verweichlichenden Dinge wie Zelte, Schlafmatratzen oder warme Kleidung ) und der mich urplötzlich einmal im Unterricht anschrie, ich hätte auf diesem Gymnasium überhaupt nichts zu suchen, stehle anderen nur Platz und Zeit und ich könnte ja auch Schornsteinfeger werden, dafür brauche ich kein Abitur, und wenn ich wirklich so begabt wäre, wie ich es den Anschein nach verbreite, sollte ich das doch einmal wirklich zeigen.! Ich habe damals sehr an mich gehalten, obwohl mir einiges auf der Zunge lag. Aus seiner (auf das Schulische beschränkten) Sicht hatte er Recht. Aber der Mond hat zwei Seiten, obwohl man von der Erde aus immer nur die eine Seite sieht – und so sind auch hier - um Matthias Claudius zu mißbrauchen – „wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn." -

Von einem anderen Lateinlehrer habe ich sehr viel mehr profitiert, das war Herr Peter, bei dem ich freiwillig (!!) nachmittags am Montag in die Alte Schule in der Schulstraße pilgerte, um „Gallia divisa est in partes tres" zu lernen. Von Herrn Peter stammen die lateinischen Satzüberschriften eines heute nicht selten gespielten delikaten Kammermusikwerkes von mir, dem „De Vita" op.18. Das danke ich ihm noch heute. Und seines lebendigen Unterrichts konnte ich mich noch nachträglich bestens bedienen, als ich ein Jahrzehnt später an der Kieler Universität das große Latinum, welches dort zum Geschichtsstudium Bedingung war, innerhalb von zwei Jahren erfolgreich ablegen konnte.

Außerdem ist mir von ihm die story erinnerlich, die er immer so nebenbei, wenn wie oft die Sprache auf den letzten Krieg kam, den er als Marinesoldat mitgemacht hatte, daß er und seine Marinekameraden auf

den Schiffen im Krieg Soda zu fressen kriegten, weil das die sexuellen Bedürfnisses eines jungen Menschen unterdrücken helfen soll. Das schien damals am meisten die mit offenen Mund zuhörenden Mitschülerin Sieglinde Barten zu interessieren! - So habe ich doch vieles für das spätere Leben Wichtige aus der Schule mitnehmen können.

Ob ich Musik auch schon an der Schule gemacht habe?? Sicher: Schon Herr Richard Pfütze, unser erster Musiklehrer in Sexta und Quinta, merkte, was mit mir so los war, und gab mir den ersten privaten Harmonielehre-Unterricht. Das Lehrbuch, welches er mir schenkte, hege ich heute immer noch samt Widmung von ihm.

Dann kam Herr Fritz, den ich erst nicht so schätzte, weil er aus einem alten zerfledderten Sonatenband Stücke von Beethoven vorspielte, dabei aber das Buch, dessen Bindung hinten schon gerissen war, mit seinen beiden Seitenteilen so drapierte, daß er in dem entstehenden Sehschlitz die Schüler während des eigenen Spiels beobachten konnte, und mich mehrmals urplötzlich überraschte, wie ich „vergessene" Mathematikaufgaben für die folgende Stunde abschrieb. Verpfiffen hat er mich nach oben aber nie.

Und da wir gerade von pfeifen sprechen: Bei ihm habe ich als Blockflötist in einer von im gegründeten sehr aktiven Kammermusikgruppe von 4-5 Personen mitgespielt (übrigens geigte da auch der Mathematiklehrer Herr Sommer mit) und habe bald dort zum ersten Mal öffentlich virtuose Sonatensätze zum Besten gegeben, bei irgendwelchen Schulveranstaltungen war das, glaube ich, aber das weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß nur noch, daß Herr Hundt, der Mann unserer Zeichenlehrerin, der selbst ein sehr guter Querflötist war, nach einem Konzertvorspiel in Kolles Muschelsaal zu mir eilte und enthousiastisch ausrief: „Aber das ist ja ganz fabelhaft, wie musikalisch und perfekt Du spielst!" (Das Blockflötenspiel hatte ich mir selbst angeeignet).

Bevor ich jetzt gleich noch auf Frau Hundt, der ersten Zeichenlehrerin, zu sprechen komme, noch weiter in puncto Schulmusik: Herrn Fritz folgte der aus Hamburg kommende Herr Ingo Koerner. Der spielte im Gegensatz zu Herrn Fritz, der ein überraschend großes Klavierrepertoire hatte, immer außer den „Bildern einer Ausstellung" von Moussorgski nur die gleiche Sonate von Beethoven vor, die er wahrscheinlich zu seinem Staatsexamen einmal geübt hatte, nämlich die erste Sonate in f-moll. Ihm hatte es erst gar nicht gefallen, daß ich einmal äußerte, daß man den zweiten Satz auch ganz anders spielen könne, „nämlich so …" und machte es ihm vor, der bis dahin nicht wußte, welcher Freak ich war.

Danach ging es besser. Er ließ mich in Ruhe, fragte mich ab und zu, wenn er selbst die Antworten nicht so genau wußte und endlich übergab er mir für fast ein Vierteljahr den gesamten Musikunterricht meiner Klasse, in der ich den Mitschülern die Matthäus-Passion von Bach erklärte, vorspielte und nahebrachte. Es werden sich sicher einige dessen erinnern. Das wurde irgendwann abrupt deswegen beendet, weil die Lehrerschaft es unverantwortlich fand, daß, während Koerner zwar nicht am Strand spazieren gehen konnte, aber sich „faul" hinten in die Bank setzen konnte, ein minder bemittelter pädagogisch überhaupt nicht qualifizierter Schüler den Unterricht wahrnahm.

Dann gründete ich mit Mitschülern den Büsumer Kammerchor, der regelmäßig in der Alten Schule nachmittags übte und mit dem ich damals schon begeisternd schöne Konzerte mit Stücken aus „Musik in der Schule Band 3" durchführen konnte, in Büsum, in Wöhrden, in Neumünster, in Schobüll... usw. usw. Dieser feine 12-köpfige Kammerchor hat auch bei der Trauerfeier für den ganz plötzlich verschiedenen neuen Direktor des Gymnasium, Herrn Putz (aus Itzehoe), gesungen. Und ebenfalls bei dieser Feier habe ich mit einem parallel von mir in Büsum gegründeten Kammerorchester (u. a. Mit Frau Berndt, Sieglinde Barten, Frau Chappuzeau und vielen anderen) Kanon und Gigue von Pachelbel weihevoll dargeboten. Fazit: die ersten bis dato knurrigen Lehrer wurden hellhörig, ich mutmaßte damals, manche hätten sich sicherlich selbst solche schöne Musik zu ihrer eigenen Beerdigung gewünscht.

Frau Hundt hielt folgendermaßen ihren Zeichenunterricht ab: Sie gab jedem eine zweistündige Zeichenaufgabe (Papier dafür mußte man sich irgendwo organisieren, es gab in den schweren Nachkriegsjahren nur schwer etwas, was man auch bezahlen konnte) und las dann währenddessen aus dem dicken Buch Geschichten aus „1001 Nacht" vor. (Die hätten bis zum Abitur gereicht). Alle hörten aufmerksam und gerne zu, und während ich auf der Rückseite von einem DIN A 1 großen Tapetenrollblatt, welches ich mir in meinem Dorf von Malermeister Thater erworben hatte, welcher dafür von mir zwei Zwerghuhneier geschenkt bekommen hatte im Tausch, eine etwa streichholzschachtel-kleine Torte rechts unten in die Ecke gemalt hatte, hörte ich dann plötzlich die gütige Stimme der die Lesung kurz unterbrechenden und die Schüler kontrollierende Zeichenlehrerin in meinem Rücken, die auf die winzige Torte und das überdimensionale Blatt Papier deutete, und sie sagte etwas, was ich mir für mein ganzes Leben für alle in Angriff zu nehmenden Dinge gemerkt habe:
„Man muß doch immer alles im rechten Verhältnis machen mit dem, was man zur Verfügung hat, und dem, was man tut!" Danke, Frau Hundt!

Die Korrektur - nach kurzem Radiergummieinsatz - wurde eine prächtige und farbig gestaltete, verlockende Klasse – Riesentorte, dabei das ganze DIN A 1-Blatt ausfüllend, mit vielen Früchten, Sahnehaube und Eierlikör obendrüber! Hmmmm!

Ihre Nachfolgerin, Frau Klau, sehr kunsthistorisch bewandert, muß ich zunächst einmal lobend feststellen, eröffnete uns gleich in der ersten Stunde. „Also, Märchenerzählen gibt es bei mir nicht! Hier wird gearbeitet!", wodurch sie sich sogleich meinen Mißmut auf sich zog. Hatte ich doch unter den Zeichenblättern doch auch schon unbemerkt immer erste Kompositionsversuche zu Papier bringen können. Aber diese Neuregelung sollte sich schon bald für die liebenswerte Frau Klau durch meine werte Abwesenheit im Unterricht rächen: Ihre uns gestellte Aufgabe war, im Maßstab so und so, ein Fischerboot aus dem Büsumer Hafen als Modell möglichst naturgetreu nachzubauen, mit Fischernetzen und allem Drum und Dran. So etwas kann ich nun überhaupt nicht, bis heute hin. Muß an meinen Genen liegen.

Doch bin ich, wie die anderen, nach der Auftragserteilung an den Hafen gegangen, habe, wie die anderen, mir einen willigen Fischer ausgesucht, habe, wie die anderen, den um die Erlaubnis gebeten, sein Boot sozusagen für dessen Modellierung zu vermessen, und habe dann, dieses Mal nicht wie die anderen, sein Angebot angenommen, mit ihm sogleich auf Krabbenfang auszulaufen, da könnte ich ja stundenlang vermessen. Für mich fielen an nämlichem Tag dadurch 5 Folgestunden (nicht Zeichenunterricht, deswegen als Fehlstunden sofort im Klassenbuch vermerkt!) aus, aber ich kam doch abends glücklich und vollgefressen mit schon an Bord frischgedünsteten Krabben (runtergespült mit dithmarscher gelbem Köhm), aber leider ohne die richtigen Bootsmaße wieder heim.

Statt eines Tadels erhielt ich in der nächsten Zeichenstunde ein Sonderlob, daß ich mich so intensiv und interessiert für diese gestellte Aufgabe gezeigt hätte. (Das von mir im Laufe des Schuljahres gefertigte Modell war grauenvoll anzusehen und wurde auch nie fertig, es ist außerdem beim Baden in der Badewanne, wo ich zumindest die Seetauglichkeit erproben wollte, immer untergegangen!)

Frau Klau habe ich aber die Bekanntschaft, die zur Freundschaft ausartete, zum nicht unbedeutenden Maler Willy Knoop zu verdanken, der einen Steinwurf weit weg von der Schule sein Domizil hatte und sich über jeden Besuch von uns Jungen freute wie ein Schneekönig. Er hat mich weit-gehend tauglich gemacht, mit geschulten Augen auch moderne Malerei zu verstehen. Dazu braucht man nämlich andere Augen, als wenn man nur ein Stück eigenhändig naturalistisch auf das Papier hingeworfene Torte verstehen will. Und er war mir im Nachherein eine nicht unwichtige Hilfe, weil die gleichen von ihm postulierten Grundsätze auch zum Verstehen moderner Musik gelten.

Ach ja, einen Lehrer muß ich noch erwähnen: Das war Herr Milkereit, Er unterrichtete Physik. Er kam aus Flensburg, spielte fabelhaft Geige, spielte in dem inzwischen von mir in Wöhrden stationierten und gegründeten Dithmarscher Kammerorchester (21 Musiker) mit, und er verstand mich, wie kaum ein zweiter Lehrer an der Schule, was ihn nicht hinderte, auch an mir seine Pflicht zu tun (Beamter!). So kam es, daß ich in einer Physikarbeit die Aufgaben nicht zu lösen vermochte (es ging, glaube ich zu erinnern, um dem Ohmschen Widerstand), deshalb gab ich ein nahezu leeres Blatt ab, fertigte aber in der Zeit, in denen die Mitschüler die Aufgaben zu lösen suchten, eine hübsche Violinsonate mit Klavierbegleitung an und gab diese mit ab. In der Folgestunde dann jene mir unvergeßliche Szene: „Neithard, Physikarbeit leider eine 6, aber Violinsonate eine glatte 1!" Das habe ich ihm nicht vergessen.

Nun, mein lieber Dieter, es fallen mir beim Schreiben immer noch mehr solche schulischen „Räubergeschichten" ein, aber ich will es mit diesem kleinen Einblick gut sein lassen und verbleibe als

Dein Schüler und Freund

Neithard