Interview mit Dr. Hans Dietrich Nicolaisen  

mit Neithard Bethke


1. Lieber Neithard: Du hast mir im Laufe der Jahre mehrfach versichert, Du sähest in Dir vor allem den Komponisten, nicht so sehr den Organisten oder Chor-oder Orchesterleiter. Begründe diese Meinung.

Die Fragestellung ist unglücklich und kann, ganz egal, wie ich sie beantworte, als Ergebnis nicht zutreffend sein. Darum erläutere ich es wie folgt: Das, was ich stets im Augenblick tue, ist meine Hauptbeschäftigung, erfaßt mich mit Haut und Haar und vollends. Spiele ich Orgel, ist Orgelspielen meine Hauptsache, begleite ich am Flügel in Liederabenden, ist Klavierspielen meine höchste Leidenschaft, dirigiere ich, egal ob Chöre oder Orchester oder am Opernpult, ist alle Aufmerksamkeit dem Dirigieren gewidmet. Wenn man in der Musik etwas nicht hundertprozentig engagiert abliefert, kann es nicht überzeugen geschweige denn andere seelisch entzünden oder mitreißen. Komponiere ich, -- diese Tätigkeit ist alleine zeitlich die umfangreichste und daher leitet sich vielleicht die Fragestellung ab, ob komponieren für mich das Höchste sei – bin ich unablenkbar dieser Tätigkeit des Neuschöpfens von Klängen und Melodien und Rhythmen hingegeben. Darum spiele ich aber das Instrumentalspiel nicht gegen das Dirigieren und beides nicht gegen das Komponieren aus. Doch sind die Kompositionen das Bleibendste, erklingende Musik verflüchtigt sich in dem Augenblick, wo sie beendet ist und darum ist es alleine aus diesem Blickwinkel richtig zu behaupten: Komponieren ist mir, weil bleibend, das Wichtigste.


2. Entstehen deine Werke überwiegend in einer plötzlichen Eingebung, oder entstehen und entwickeln sie sich über einen längeren Zeitraum?

Selbstverständlich hat man als Komponist spontane Ideen oder „Eingebungen“, aus irgendeiner Laune oder Umstand oder plötzlichen Gegebenheit initiiert. Das äußert sich dann in einer mehr oder weniger ausgereiften Improvisation oder Fantasie. Eine Komposition ist aber etwas anderes als eine Improvisation oder eine Fantasie. Obwohl ich Wert darauf lege und das mein Markenzeichen ist (dieses übrigens auch beim Musizieren, Dirigieren, Spielen), daß jeder Takt wie in diesem Augenblick entstanden und „geschöpft“ lebendig erklingen muß, dauert es bei mir von der Inspiration und auch von der Improvisation an lange, bis es endgültig als Komposition schriftlich fixiert ist. So sind meine ersten 4 opera (alle noch in der Gymnasialzeit unter der Schulbank hinskizziert!!!) als aufgeschriebene Improvisationen lange im gedanklichen Hinterstübchen weitergewachsen und gereift und ich habe sie erst rund 20 Jahre später, als es zur Drucklegung in einem Musikverlag kam, richtig ausgearbeitet. Das Stück, an dem ich jetzt gerade arbeite, mein opus 100, ein Oratorium namens „Lux aeterna“ schmort seit mehr als 10 Jahren in meinem Kopf
und nimmt erst jetzt seit August d. J. beim Ausschreiben langsam feste Gestalt an. So sind innerhalb von 3 Monaten erst drei von 11 Sätzen fertiggestellt. Dieses etwa zweistündige Oratorium in großer Orchester – und Vokalbesetzung wird mich ganz sicherlich noch bis Ende 2016 binden, bis es dann vollendet ist und endlich die mir jetzt schon zugesicherte Uraufführung in München stattfinden kann.


3. Ist eine Komposition eher das Ergebnis einer Kopfarbeit oder von Gefühlen?

So kann nur ein sezierender Philologe fragen: Deshalb antworte ich mit dem umfassenden Ausspruch eines großen französischen Komponisten: Musik sagt das aus, was Sprache nicht mehr ausdrücken kann. Und wehe, die Musik ist nur mathematische Kopfarbeit (wie die Zwölfton – oder die serielle Musik), und wehe auch, sie ist nur dem Gefühl (wie die seichteste Seifenoper) verpflichtet. Dann wäre sie ja auch mit Alltagssprache auszudrücken gewesen.
Denn:
Musik ist weder Gefühlsduselei noch eine Logarithmenberechnung, sondern weit über beiden stehend und muß gleichwertig Geist, Herz und Seele als Wurzel haben.


4. Gibt es für dich für das Komponieren eine bevorzugte Tages- oder Jahreszeit oder besondere Witterungsbedingungen?

Nee, ganz und gar nicht, ich arbeite zwar –begünstigt durch die offizielle Rentnerzeit, in der mich kein Feueralarm mehr als langjährigen Feuerwehrchef zu Einsätzen ruft, keine Kirchenglocke mehr als Domorganist zu den Gottesdiensten - in den letzten Jahren stets regelmäßig von morgens 5 Uhr bis 9 Uhr am Komponiertisch, aber wie man gesehen hat, war auch die Schulzeit (im engeren Sinne- die Unterrichtszeit nämlich!) eine sehr fruchtbare Zeit fürs Komponieren bei mir! Und ob es draußen stürmt oder nebelt, das ist völlig gleichgültig. Mein Komponieren blüht nicht nur zur Sommerzeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit!


5. Der Dirigent des Symphonieorchesters des NDR erklärte kürzlich in einem Pausengespräch im Fernsehen, DUR sei die natürliche Tonart. Wann entscheidest du, wann ein Werk von dir in DUR oder MOLL gespielt werden soll? Wovon hängt es ab, ob eine Komposition speziell in A-Dur, F-Dur oder Es-moll gespielt werden soll?

Zum (fragwürdigen) statement des NDR-Orchesterdirigenten: Er kann nur damit gemeint haben, daß die natürliche physikalische Obertonreihe nach Pythagoras sich zunächst auf einem reinen Durakkord nach oben entwickelt. Jedoch davon abzuleiten, das sei die einzige natürliche Tonart, würde bedeuten, daß man sich auf die Anfangsgründe der Musikausübung (Steinzeit oder früher) beschränkt. Alle alten Kirchentonarten der Griechen, das uns geläufige Moll, das exotische Zigeunermoll aus Ungarn, die pentatonischen Liedertonarten, alles ist für mich absolut „natürlich“, wenn auch nicht durch die pythagoräischen Obertonreihen erklärt.
Was mich jedoch betrifft, habe ich ein sehr sensibles Farbempfinden, was Tonarten, was einzelne Instrumente, was Akkordverbindungen angeht. Ich kann sie nicht ohne mich selbst in meiner diesbezüglichen Empfindsamkeit zu beschädigen, willkürlich
wählen, sondern muß genau nach „innen hören“, muß den textlichen oder melodischen Vorwurf, die angestrebte Aussage berücksichtigen, will ich nicht frevelhaft leichtsinnig aus dem üppigen Tuschkasten der Komponierwerkstatt ein wirres Tongemälde hinpinseln. Das tun nur verantwortungslose, unsensible Rock-und Popsänger, deren akustisch manifestierte Dummheit dann auch noch durch Lautsprecher schmerzhaft den Hörern ins Ohr gezwungen wird, das tun nur Laien, die Musik nicht als Lebensbestimmung und geistig-seelische Sprache verstehen, sondern als billige, meist völlig unreflektierte Freizeitbeschäftigung.


6. Wann ist deine erste Komposition entstanden? Hat Dich jemand dazu angeregt oder gab es einen besonderen Anlaß?

Das kann ich genau datieren: Ich war 17 Jahre alt, als die erste - auch heute noch als Komposition zu bezeichnende – Tonschöpfung „aus meiner Feder“ floß. Ich brauchte für die St. Nicolai-Kantorei in Wöhrden, die ich 2 Jahre zuvor von meiner Mutter übernommen hatte, eine bestimmte Evangelienmusik über den Text „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir“ für vierstimmigen gemischten Chor zu einem bestimmten Sonntag. Ich habe die Komposition nicht mehr gehabt, im Nachlaß meiner Mutter fand ich das von ihr offensichtlich sorgsam gehütete Manuskript wieder. Ich habe es so, wie damals „erfunden“, einem Motettenband einverleibt, der vor einem Jahrzehnt in einem renommierten Musikverlag aus dem Druck kam. Heute gehört diese Motette zum oft gesungenen Repertoire meines Hochschulchores Görlitz/Zittau.


7. Wie viele Kompositionen sind im Laufe deines Lebens deiner Feder entsprungen? Handelt es sich überwiegend um geistliche Musik? Welche Werke sind in einem fremden Auftrag entstanden?

Es sind etwa 200 Kompositionen entstanden bis jetzt (Stand 2015), die in 104 opus-Zahlen geordnet sind (einzelne Lieder zum Beispiel sind in Liederzyklen zusammen gefaßt). Aber ich „hab ja noch nicht fertig“, und im Kopf sind noch ganze Hummelschwärme am Schwirren. Mal sehen.
Weniger als die Hälfte ist geistliche Musik, es sind genauso viele Kammermusiken, Solokonzerte, Bühnenwerke, Liederzyklen, Orchesterwerke, weltliche Madrigale, und Orgelwerke (die nicht unbedingt immer geistlicher Natur sein müssen) entstanden.
Nach meiner Erinnerung sind nur zwei völlig verschiedene Werke eine Auftragskomposition gewesen, erstens eine im Jahr 1979 entstandene Messenvertonung für Soli, Chor, Orgel und Orchester zum Pfingstfeiertag, mein opus 33. Der Auftraggeber war der Norddeutsche Rundfunk, der die Uraufführung aus dem Ratzeburger Dom live übertrug. Das zweite ist eine Bühnenmusik zum Schauspiel „Gold der Götter“, die von dem Intendanten Fritz Fey/Lübeck im Jahr 1972 in Auftrag gegeben und in enger Zusammenarbeit mit ihm im dramatischen Ablauf skizziert wurde, aber erst im Jahr 2007 als mein op. 77 seine Vollendung fand. Auch meine Bühnenmusik zu Exépurys „Kleinem Prinzen“ als Marionettenspiel der Lübecker Marionettenbühne geht ursprünglich auf Initiative von Fritz Fey zurück, fand aber wegen dessen Ablebens vor der Uraufführung erst später Vollendung.


8. Wie gehst Du damit um, wenn eines deiner Werke von einem anderen Chor oder Orchester aufgeführt wird und die Interpretation gar nicht deinen Vorstellungen entspricht?

Alle Kompositionen habe ich nicht nur für mich selbst und meine (allerdings sehr lebhafte) Musik-und Konzertpraxis geschrieben, sondern sie sind dazu bestimmt, viel und von anderen Musikern aufgeführt zu werden. Ich habe da schon ausgezeichnete Ergebnisse erleben können (wie jüngst Stuttgarter Rundfunkorchester mit op. 44, Berliner Domchor mit op.25, hervorragende Konzertorganisten mi diversen opera- und Pianisten- op. 45), aber natürlich haben manche auch die Schwierigkeiten meiner Kompositionen unterschätzt und waren dem Geforderten weder geistig, noch technisch noch musikalisch gewachsen. Damit muß man als Komponist leben. Bonhoeffer hat in einem anderen Zusammenhang einmal gesagt: Wenn man im Fragment noch erkennen kann, wie es einmal gemeint war, dann ist es schon anerkennenswert.


9. Welche Musik hörst du, wenn du in deiner Freizeit die Wahl hast?

Also bitte schön: Ich bin Rentner. Freizeit ist für mich fast wie ein Fremdwort und „Urlaub“ fällt für mich im Urwald von den Bäumen. Ich hetze Woche für Woche von Probe zu Probe in verschiedenen Städten, von Konzertort zu Konzertort im In – und Ausland (komme gerade von einem Orgelfestival aus Österreich zurück), vertiefe mich ins Komponieren, da ist – zum Leidwesen meiner Frau – kaum noch Zeit für Frühstück, Spaziergang oder Kinobesuch. Jedoch: Am liebsten höre ich aber immer meine eigenen Werke an (und zwar, damit sie überhaupt jemand anhört!!).


10. Warum ist Johann Sebastian Bach dein Lieblingskomponist?

Wer hat denn das behauptet? Ich nicht! Öfter werde ich gefragt, was mein Lieblingskomponist, was meine Lieblingsmusik sei. Und ich antworte ebenso eindeutig jedesmal: die Musik, die ich gerade in diesem Augenblick interpretiere, spiele, dirigiere, schreibe, das ist meine Lieblingsmusik. Denn die verlangt mein ganzes Augenmerk, meine ganze Hingabe, und wenn ich in diesem Augenblick nicht so denken würde, wäre ich der falsche Mann am Platz. Diese meine restlose Hingabe ist gleich bei allen Kompositionen der guten Komponisten, wie etwa denen von Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner oder Bethke (um nur einmal beispielsweise bei dem Anfangs-Buchstaben B zu bleiben).


Zusatz für Neugierige:
Auf meiner website: www.nbwv.de findet man eine genaue aktuelle Auflistung meiner Kompositionen. Manche sind mit Klangbeispiel versehen, und wenn man die anhört, ist man rechtzeitig vor einem Konzertbesuch mit Aufführung meiner Kompositionen gewarnt!
Neithard Bethke
Akkordarbeiter