gehalten am 19.Januar 2000 im Kieler Schloß anläßlich der Verleihung der Ehrenprofessur an Neithard Bethke
von Prof. Dr. theol. Martin Metzger./ Kiel
Sehr geehrte Frau Ministerin,
sehr geehrter Herr Bischof,
liebe Kollegen, Verehrer und Freunde Neithard Bethkes,
liebe Familie Bethke und darin bereits eingeschlossen:
lieber Neithard Bethke,
Lassen Sie mich ganz persönlich beginnen!
Es war zu Beginn des Sommersemesters 1973, vor nunmehr fast 27 Jahren. Ich hielt meine erste Lehrveranstaltung in Kiel ab, eine Übung über alttestamentarische Texte für Studierende ohne Hebräisch-Kenntnisse. Unter den Teilnehmern saß ein Student, der offenbar etwas älter war als die anderen. Er hatte den Kopf etwas schief gelegt, die linke Augenbraue und der linke Mundwinkel waren hochgezogen, die Stirn lag in Falten. Es schien so, als schaue er skeptisch und ein wenig verdrossen drein. Ich dachte so für mich: "Hoffentlich macht der dir nicht das ganze Seminar kaputt!" Und der erste, der sich im Verlauf der ersten Sitzung zu Wort meldete, war dieser Student. Und seine Frage war recht gescheit und zeugte von Interesse. Im Laufe der Sitzung meldete er sich immer wieder, und seine Fragen und seine Beiträge waren für den ganzen Ablauf der Übung sehr zuträglich und förderlich. Am Ende der Übungsstunde fragte er, ob er zur Studienberatung kommen könne. Wir gingen in mein Zimmer. Er stellte sich vor, er sei Organist am Ratzeburger Dom, er studiere an der Philosophischen Fakultät Musikwissenschaft als Hauptfach und Geschichte als Nebenfach und wolle Theologie als zweites Nebenfach studieren, sein Ziel sei die Promotion. Wir kamen sofort in ein sehr lebhaftes und interessantes Gespräch über Theologie und natürlich über Musik. Es dauerte über eine Stunde. Und am Ende wußte ich, daß ich einen interessanten Menschen kennengelernt hatte. In den nächsten Semestern besuchte er regelmäßig meine Übungen und Vorlesungen. Inzwischen hat er das Ziel seiner Promotion erreicht und ist mir ein guter und origineller Freund geworden. Sie wissen natürlich längst, von wem die Rede ist - von Neithard Bethke, dem heute die Urkunde für die Verleihung einer Ehrenprofessur überreicht wird, und ich soll die Laudatio halten.
"Laudatio" - "Lobrede", damit ist nicht Lobhudelei gemeint. Es geht vielmehr um eine Würdigung des Wirkens und Schaffens von Neithard Bethke, um eine Begründung dafür, wieso ihm die Würde eines Professors ehrenhalber zukommt. Laut Gesetz steht es der Ministerpräsidentin zu, Personen, die sich in ganz herausragender Weise auf dem Gebiet der Kunst verdient gemacht haben, mit dem Titel eines Professors auszuzeichnen.
Laudatio, Lobrede - das hat eine objektive und eine subjective Seite. Wer einem anderen Lob zuteil werden läßt, der muß objektiv vom Tun und Wirken des anderen sprechen. Lob ist aber immer auch eine persönliche Angelegenheit, da schwingt, wenn es recht gelingen soll immer ein Stück persönlicher Betroffenheit, ein Stück persönlicher Beziehung mit.
Neithard Bethke hat sich herausragende Verdienste erworben auf dem Gebiet der Musik, als ausübender Künstler und als selbstschaffender Komponist. Da stünde es eigentlich einem Fachmann, einem Musikwissenschaftler oder einem selbst ausübenden Künstler zu, das Werk des zu Ehrenden zu würdigen. Ich bin weder Musikwissenschafftler noch ausübender Musiker, wenn man von unbedeutenden Versuch auf dem Gebiet der Hausmusik absieht. So bleibt mir nichts anderes übrig, als auf der objektiven Seite einfach und nüchtern das Wirken und Schaffen Neithard Bethkes in Umrissen darzustellen, ohne auch nur den Versuch zu machen, eine adäquate Beurteilung zu bieten, und das Schwergewicht muß auf der subjektiven, auf der persönlichen Seite liegen. Musik ist nicht nur für den professionellen Musiker geschrieben und wird nicht nur für ihn ausgeübt; sondern Musik zielt auch auf den Hörer, auf den Empfangenden ab. So lassen Sie mich reden als Laie auf dem Gebiet der Musik, der aber gleichwohl die Musik schätzt und liebt, als einen, der in mannigfaltiger Weise dankbarer Empfänger des musikalischen Wirkens Neithard Bethkes war und ist.
Im Hebräischen, im Griechischen und im Lateinischen ist das Wort für "Loben, Preisen" dasselbe Wort wie das für "Segnen". Lob Gottes ist Rückspiegelung empfangenen Segens. So darf man hier analog sagen: Meine Laudatio auf Neithard Bethke ist Rückspiegelung dessen, was ich durch seine Musik und auch durch ihn persönlich empfangen habe. "Loben" heißt auf Griechisch eulogein und auf Lateinisch benedicore, und das bedeutet in beiden Sprachen: "gut über jemanden sprechen". Wenn Gott gut über uns spricht, dann segnet er uns. Einen Menschen oder Gott zu loben, das heißt, gut von ihm zu reden, von dem Guten zu reden, das wir durch ihn empfangen haben. Zum objektiven Teil der Laudatio gehören die nüchterne Auflistung des Wirkens und des Werkes sowie ein kurzer Rückblick auf die wichtigsten Rahmendaten des Lebensweges.
1) Kurzer Abriß der Lebensdaten
Neithard Bethke wurde am 2. April 1942 in Wöhrden/Dithmarschen in einer kinderreichen Pastorenfamilie als achtes von 10 Kindern geboren. Musik hat ihn von frühester Kindheit umgeben, er hat sie wortwörtlich mit der Muttermilch eingesogen. Seine Mutter war professionelle Musikerin, sie war Klavierpädagogin, zu ihrer Zeit die jüngste Professorin ihres Faches. Sie war eine sehr warmherzige, liebevolle und liebenswürdige, bei aller Begabung überaus bescheidene Frau, über die man ein eigenes Loblied singen müßte. Sie wurde seine erste Klavierlehrerin. Schon mit 7 Jahren spielte er die Orgel im Gottesdienst in Wöhrden, mit 13 Jahren wurde er dort vertraglich fest eingestellt. Sein Berufsweg war ihm klar vorgezeichnet, es gab für ihn nur einen Weg: die Musik. Er studierte Kirchenmusik, Komposition, Klavier und Dirigieren in Lübeck, Freiburg, Paris, Madrid und Hamburg.
Seine Lehrerinnen und Lehrer waren Walter Kraft, Pierre Cochereau, Marie Claire Alain, Kurt Thomas, Wilhelm Brückner-Rüggeberg, Igor Markevitch und vor allem Ina Krieger. 1967 legte er das Staatsexamen als Kapellmeister, 1968 das als A- Kirchenmusiker ab.
Neithard Bethke war zunächst als Kirchenmusiker in Wöhrden und in Lübeck tätig und wurde 1969 Domorganist in Ratzeburg. Im gleichen Jahr gründete er die Sommerakademie in Ratzeburg. 1972 erfolgte die Ernennung zum Kirchenmusikdirektor und er war damit für lange Zeit mit Abstand jüngster amtierender Kirchenmusikdirektor Deutschlands. 1981 wurde Neithard Bethke Chefdirigent des renommierten, aus erstklassigen Fachkräften bestehenden Deutschen Bachorchesters, das damals seinen Sitz in Köln hatte und dessen Sitz er nach Hamburg verlegte. Neben all den zahlreichen und mannigfaltigen Tätigkeiten in seiner Ratzeburger Zeit, von denen noch die Rede sein wird, holte Neithard Bethke das Abitur und das Große Latinum nach, studierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Musikwissenschaft, Geschichte und Theologie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Seine Dissertation befaßt sich mit dem Leben und dem Werk von Kurt Thomas, der zeitweilig Dirigent des Thomanerchores war. Bethke erschloß und interpretierte dafür ein umfangreiches Quellenmaterial und würdigte und interpretierte erstmalig das Gesamtwerk der kompositorischen Tätigkeit von Kurt Thomas. Diese Dissertation bietet zugleich erstmalig einen umfassenden Überblick über die Kirchenmusik des 20. Jahrhunderts in Deutschland und befaßt sich mit der Problematik der Kirchenmusik unter zwei atheistischen Diktaturen. 1994 wurde Neithard Bethke das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.
Will man ihn, sein Wirken und Schaffen in Kürze charakterisieren, so kann man es mit den Stichworten Vielfalt, Originalität, Phantasie, Kreativität und Intensität umreißen. Beharrungsvermögen, Durchsetzungskraft, Engagement bis zum Äußersten gehören zu seinen Charaktereigenschaften.
Als Ausgangspunkt kann man auch ein Goethe-Zitat, das im Programmheft der Ratzeburger Dommusiken 1999 abgedruckt ist, wählen: "Wenn der Künstler nicht zugleich Handwerker ist, so ist er nichts; aber das Unglück! Unsere meisten Künstler sind nur Handwerker"
Neithard Bethke hat immer großen Wert darauf gelegt, daß das Handwerk in der Kunst in Ordnung ist. Das gilt für seine eigene Tätigkeit als Organist, als Klavier- und Orgellehrer, als Chor- und Orchesterdirigent und für seine kompositorische Tätigkeit. Auf all diesen Gebieten stellt er unerbittlich hohe Ansprüche an sich selbst und an andere und kann böse werden, wenn das Handwerkliche nicht stimmt.
Aber das ist nur die eine Seite der Sache! Goethe beklagt, daß die meisten Künstler nur Handwerker sind. Zum wahren Künstler gehört mehr als nur Handwerk. Aber worin besteht das Mehr? Goethe sagt es nicht ausdrücklich, und es ist schwer in Worte zu fassen. Ich kam es nur mit einem sicher sehr unzureichenden Bild ausdrücken: Es ist der zündende Funke! Der zündende Funke, der im Künstler das schöpferische Licht entflammt und dann von ihm auf andere überträgt, vom Dirigenten auf das Orchester, auf den Chor, auf die Solisten, der Funke, der dann vom Chor, vom Orchester von den Solisten auf die Zuhörer überspringt. Neithard Bethke legte immer großen Wert auf solides Handwerk in der Kunst - aber er war nie nur Handwerker. Bei ihm sprang der Funke immer über. Das gilt für alle Tätigkeitsfelder seines künsftlerischen Schaffens, die jetzt in Kürze und in Auswahl zu umreißen sind.
2) Die musikalische Praxis
Neithard Bethke als Organist, Dirigent, Cembalist, Musikpädagoge und Organisator. Hier ist in erster Linie seine Arbeit mit dem Ratzeburger Domchor und den Ratzeburger Domfinken, mit dem Deutschen Bachorchester zu nennen. 1999 feierte er das dreißigjährige Jubiläum seiner Zusammenarbeit mit dem Domchor. Auch hier ist zunächst von der Vielfalt seines Musizierens zu reden. In jedem Jahr wurden bis zu 8 große oratorische Chorwerke einstudiert und aufgeführt. Die Werkauswahl reichte von Monteverdi bis zur Moderne. Auf dem Programm standen, um nur einiges in Auswahl zu nennen, die Matthäus- und die Johannespassion, das Weihnachtsoratorium und sämtliche Messen von Bach, Messen von Mozart, Cherubini, Beethoven, Bruckner und Dvorak, der "Messias" von Händel, die "Schöpfung" von Haydn, "Paulus" und "Elias" von Mendelssohn, die Requien von Mozart, Brahms, Verdi und Bruckner. Es sei erinnert an Bethkes Rekonstruktion und Aufführung der Markuspassion von Johann Sebastian Bach. Unter den Modernen sei die unvergeßliche Aufführung der Apokalypse von Rudolf von Oertzen genannt, deren Uraufführung in Berlin durch Furtwängler erfolgte, und die Neithard als Zweiter in Ratzeburg und Bonn aufführte. Werke moderner Komponisten wurden in Ratzeburg ur- oder erstaufgeführt. Zahlreiche Mitschnitte von Ratzeburger Domkonzerten erschienen als Schallplatte oder CD.
Was der Dirigent Bethke für den Chor bedeutet, das wird von einem der langjährigen Chormitglieder zu sagen sein. Ich kann hier nur als Laie sprechen, als einer, der seit 27 Jahren regelmäßig zu den Konzertbesuchern in Ratzeburg gehört. Wie Musik klingt, ist schwer oder gar nicht in Worte zu fassen. Lassen Sie es mich ganz persönlich sagen: Jedesmal, wenn ich ein von Neithard Bethke geleitetes Konzert höre, fühle ich mich unsagbar bereichert und beschenkt. Es will so scheinen, als kommen die Mauern und Pfeiler und Gewölbe des Ratzeburger Domes selbst zum Klingen, als sei die Zeit, in der die Musik entstand, präsent, als sprächen Bach, Mozart und Brahms selbst zu uns. Selbst Werte, die man schon oft gehört hat, klingen wie neu.
Die musikalische Tätigkeit von Neithard Bethke beschränkt sich nicht auf die Ratzeburger Domkonzerte. Fast alljährlich finden in Ralzeburg im Sommer internationale Orgelwochen statt, an denen Organisten aus aller Welt beteiligt sind. Seit 1969 organisiert und leitet Bethke die von ihm ins Leben gerufene Ratzeburger Sommerakademie, bei denen renommierte Musikpädagogen und Künstler Meisterkurse für Musikstudenten durchführen. Über 1000 Studierende nahmen bisher an diesen Kursen teil. Sie sind inzwischen selbst ausübende Künstler; einige sind Dozenten und Professoren.
Zu Bethkes Lehrtätigkeit gehören Gastdozenturen und -professuren in St. Petersburg, Hongkong, Singapur, Sidney, Perth, Mailand, Santiago de Chile.
Seine musikalische Tätigkeit beschränkt sich nicht auf Ratzeburg. Mit seinem Chor gab er zahlreiche Gastkonzerte im Ausland. Er selbst war tätig als Organist, Cembalist und Dirigent in Belgien, England, Holland, Irland, Frankreich, Italien, Island, in Estland, Lettland, Litauen, Finnland und Schweden, in Polen, Tschechien, Rußland, Rumänien, Ungarn, Kasachstan, Georgien, Armenien; in Spanien, Schweiz, Österreich, Jugoslawien, Norwegen, Dänemark, Liechtenstein; in anderen Erdteilen in Hongkong, Singapur, Australien, Nord- und Südamerika, in Kanada und China.
Dabei machte er sich einen Namen nicht nur als Kirchenmusiker sondern auch als Operndirigent. Figaros Hochzeit, La Traviata, Aida, Nabucco, La Bohéme, Carmen, Meistersinger, Tannhäuser, Parsifal, Die Lustigen Weiber von Windsor, Freischütz u.a. gehören zu seinem Repertoire. ei der Einrichtung der Domkonzerte, der Orgelwochen, der Sommerakademien, bei der Geldbeschaffung für den Bau von drei Orgeln im Ratzeburger Dom bewies Neithard Bethke ein beträchtliches Organisationstalent.
All diese Unternehmungen betrieb Neithard Bethke mit höchstem persönlichem Engagement, wobei er auch persönliche finanzielle Opfer brachte. Beim Bau der drei neuen Orgeln im Dom, den er gegen alle Widerstände mit eiserner Energie und unbeirrbarer Beharrlichkeit durchsetzte, und bei der Finanzierung der Domkonzerte setzte er persönliche Mittel ein, nahm hohe persönliche Kredite auf und verwendete alle Einnahmen aus Konzertreisen zur Begleichung dieser Schulden. Das stellte manche Anforderungen auch an die Familie, ohne deren Bereitwilligkeit das Wirken Neithards nicht möglich gewesen wäre, und der an dieser Stelle von Herzen gedankt sei.
3) Kompositorische Tätigkeit
Vielfalt und weite Fächerung - das gilt auch im Bezug auf Neithard Bethkes kompositorische Tätigkeit, die Gattungen und Inhalte seiner Kompositionen. Zu den bislang 77 von ihm geschaffenen Werken gehören 30 Werke für Orgel, 1 Messe, 3 Oratorien, 8 Motetten, 12 Kantaten, 12 andere Chorwerke, 4 Liederzyklen, 3 humorvolle weltliche Chorwerke, 1 Sinfonie, 6 andere Werke für Orchester.
Er vertonte Texte verschiedener Autoren: Jochen Klepper, Dietrich Bonhoeffer, Hilde Domin, Uwe Steffen, chinesische Lyrik, Erwin Lüddecke, Eva Zeller. Seine Vertonungen zeichnen sich oft durch originelle Instrumentierung aus, so z.B. Klarinette, Harfe und Altstimme oder für Sopran, großes Schlagwerk und Orgel. Für Bethkes Kompositionen gilt, was Goethe über die Kunst generell sagt: "Das müßte gar eine schlechte Kunst sein, die sich auf einmal fassen ließe, deren Letztes von dem gleich geschaut werden könnte, der zuerst hereintritt"
In der Tat - die Kompositionen Bethkes erschließen sich nicht immer beim ersten Zuhören. Man muß sich hineinhören, sie öfter hören, in sie - um bei dem Bilde Goethes zu bleiben - hereintreten wie in einen Raum, und dann fangen sie an zu sprechen. Als besonders ausdrucksstark habe ich Bethkes Oratorientrilogie in Erinnerung, Oratorien zum Totensonntag, zu Weihnachten, zu Passion und Ostern. In ihnen sind vier verschiedene textliche und musikalische, einander ergänzende und einander interpretierende Gattungen zu einem neuen Ganzen verwoben.
Texte und Sequenzen aus der Gregorianik als überzeitliches musikalisches Element, Bibeltexte, von Neithard Bethke vertont (zu Weihnachten das Weihnachtsevangelium, zu Passion und Ostern Passionstexte der Evangelien), verbunden mit anderen Bibeltexten, die ein neues Licht auf die Kernaussagen werfen, gesungen vom Chor und von Solisten, der Kinderchor mit einem geistlichen Volkslied, und schließlich wird die Gemeinde mit einem Choral einbezogen. Indem Bekanntes und Unbekanntes, Altes und Neues zusammen erklingen, wird man in das Gesche¬hen hineingenommen, erschließt sich die Musik von innen her.
Das sei verdeutlicht am Oratorium zum Totensonntag, das bei mir einen ganz besonders tiefen Eindruck hinterlassen hat. Am Anfang steht das gregorianische "Media vita in morte sumus", "Mitten im Leben stehen wir im Tod". Wie das Anschlagen einer Totenglocke kehren dieser Text und diese eindringliche Melodie jeweils zu Beginn eines neuen Sinnabschnittes ständig wieder. Der fortlaufende, von Bethke vertonte Bibeltext dieses Oratoriums ist Psalm 90, der wie kein anderer von der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des Menschen spricht. Als Kontrast und Interpretamént sind neutestamentliche Texte eingefügt, die von Hoffnung, Trost und Überwindung des Todes sprechen: "Ich bin die Auferstehung und das Leben...", "Ich bin der Erste, ich bin der Letzte und Lebendige" u.a. Von Vergänglichkeit und Tod spricht auch das geistliche Volkslied, das der Kinderchor singt: "Es ist ein Schnitter, der heißt Tod," mit dem Kehrvers "Hüt' dich, schöns Blümelein!" Der Choral, der von Gemeinde, Chor und Solisten gemeinsam gesungen wird, greift auf den Gregorianischen Choral zurück: "Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen." Durch Einbeziehen der Zuhörer wird der Konzertbesucher vom passiven Rezipienten zum aktiv Beteiligten, zum Mitwirkenden, wird das Auditotorium zur Gemeinde. Plötzlich ist es nicht mehr das Konzert der Berufsmusiker sondern es ist unser Konzert - mehr noch: aus dem Konzert wird ein Gottesdienst. Man fühlt sich mit einbezogen in das Gesamtgeschehen, wenn Chor, Solisten und Auditotium gemeinsam singen, Fachmusiker und Laien, Kinder und Erwachsene, "Alte mit den Jungen". Es ist überwältigend, wenn zum Schluß der Text des gregorianischen Gesanges ins Gegenteil verkehrt wird und in dreifacher Wiederholung statt "Media vita in morte samus" - "Media morte in vita sumus", "Mitten im Tode sind wir vom Leben umfangen!" erklingt, verwoben mit der letzten Strophe des ins Positive gewendeten Liedes vom Schnitter Tod, dessen Kehrvers nunmehr lautet: "Freu dich, schöns Blümelein", der ebenfalls wiederholt wird. Ganz verhalten und darum besonders eindrucksvoll klingt das Oratorium aus mit der Vergewisserung durch die Solisten: "...in vita samus!" und mit dem "Amen" aller Beteiligten. Das Oratorium ist eine beachtliche theologische Leistung. Durch die Kombination verschiedener Text- und Musikgattungen werden die verschiedenen inhaltlichen Aspekte beleuchtet, werden die Vertonungen Neithard Bethkes mit Gregorianik, Choral und geistlichem Volkslied zu einem neuen Ganzen verwoben. Nie hat mich eine Vertonung eines modernen Autors so im tiefsten Inneren angesprochen, wie es bei diesem Oratorium der Fall war und ist.
4) Politische und soziale Aspekte
Schließlich ist von der politischen und sozialen Dimension in Bethkes Wirken und Schaffen zu reden. "Politisch" - damit ist natürlich nicht Parteipolitik, schon gar nicht politische Propaganda oder gar Ideologie oder Agitprop gemeint, sondern gemeint ist die Auswirkung seiner Musik bis in den politischen Bereich hinein, das bis in den politischen Bereich hinein reichende Engagement des Musikers und des Komponisten Neithard Bethke. Schon lange vor der Wiedervereinigung pflegte er engen Kontakt zur damaligen DDR und zu anderen Ländern des Ostblocks, zu Polen und Rußland. Bei aller entschiedenen Ablehnung diktatorischer Systeme suchte Bethke durch seine musikalische Tätigkeit Kontakte zu den Menschen in jenen Bereichen durch Gastkonzerte mit seinem Chor in Ostdeutschland und in Polen, durch Dirigententätigkeit in Warschau , Moskau, Leningrad, Prag und in anderen Städten des Ostens... In der ihm eigenen Unerschrockenheit und Direktheit machte er keinen Hehl aus seiner Kritik an der Diktatur und geriet einige Male in schwierige Situationen, die nur durch das Eingreifen diplomatischer Vertretungen der Bundesrepublik abgewendet werden konnten. Er nahm es Ernst, daß der Ratzeburger Dom zur Mecklenburgischen Landeskirche gehört, und pflegte engen Kontakt zu Schwerin. Und als Mauer und Stacheldrahtzaun sich öffneten und die Grenze durchlässig wurde, brauchte der Kontakt "nach drüben" nicht erst hergestellt zu werden, er war bereits vorhanden und mußte nur intensiviert werden. Im ersten Konzert nach Öffnung der Grenzen waren Mitglieder des Schweriner Domchors zu Gast in Ratzeburg, bald darauf kam es zu einer gemeinsamen Aufführung des Messias, dessen "Halleluja" wohl niemand mit so innerer Bewegung gesungen, gehört und erlebt hat wie bei dieser ersten gemeinsamen Aufführung unmittelbar nach der Aufhebung der Grenze. Von da an wurden der Austausch und das gemeinsame Wirken von Dirigenten, Organisten und der Chöre von Ratzeburg und Schwerin, von Ratzeburg und Olsztyn/Allenstein oder Krakau zur Regel. Russische und polnische Orchester pflegten regelmäßig im Ratzeburger Dom unter Bethkes Leitung aufzutreten. Dieses gemeinsame Wirken auf kulturellem und künstlerischem Gebiet, die menschlichen Kontakte und Freundschaften, die sich daraus ergeben, tragen ganz entscheidend dazu bei, ein Klima des Vertrauens zu schaffen, Grenzen zu überwinden, Frieden zu stiften, die "Mauer in den Köpfen" abzubauen, Vorurteile auszuräumen, Brücken zu bauen.
Dieser Beitrag zur Völkerverständigung, zur Versöhnung findet auch Niederschlag, im kompositorischen Schaffen Neithard Bethkes. Seine Sinfonie zur Wiedervereinigung umfaßt wiederum verschiedene Grundelemente: Da pacem ("Gib Frieden") - die Trompetenfanfare der Marienkirche in Krakau - den Choral "Verleih uns Frieden" und den von Bethke vertonten, Franz von Assisi zugeschriebenen Text: "Mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens". Schon diese Inhalte machen deutlich, welchen Akzent Bethke der Wiedervereinigung gibt: kein Triumphalismus, kein nationalistisches, selbstüberhebliches Pathos - sondern Bitte um Frieden ist der Grundtenor und der einzige Inhalt dieser Symphonie.
Auch Bethkes "Große Messe", die anläßlich der Renovierung des Domes zu Königsberg/Kaliningrad komponiert wurde und demnächst uraufgeführt werden soll, vereint wieder die verschiedensten Elemente. Sie bezieht das Originalglockengeläut des alten Königsberger Domes auf Tonband ein, integriert Texte der lateinischen Liturgie und bietet Bethkes Vertonungen in Ostpreußen beheimateter russischer und deutscher Dichter. Versöhnung ist der Grundtenor dieses Werkes. Das alte Glockengeläut erinnert an die Geschichte, an unwiederbringliche Vergangenheit, an schmerzlichen Verlust. Der Text der Messe ist das liturgische Kontinuum, gemeinsame gottesdienstliche Praxis. Die Vertonung von Texten russischer und deutscher Dichter, die aus einem Gebiet stammen, das den einen die neue Heimat, den anderen die alte und verlorene Heimat ist, bekundet Versöhnung, Verständigung, friedvolles Miteinander.
Bethkes Engagement auf sozialem Gebiet findet auch Ausdruck in seiner Tätigkeit bei der Freiwilligen Feuerwehr in Ratzeburg, deren Einsatzleiter er ist. Neithard Bethke, der Dirigent des Ratzeburger Domchores ist zugleich der "Dirigent" der Feuerwehr. Vielen Menschen hat er durch mutigsten persönlichen Einsatz dabei das Leben gerettet und wurde auch hierfür mit dem höschten Ehrenkreuz der feuerwehren und vom Bundespräsidenten mit dem Verdienstkreuz am Band ausgezeichnet. Bethkes unbedingter Einsatz auf beiden Gebieten, der Musik wie der Feuerwehr, ohne Rücksicht auf sich selbst, sein Einsatz bis zum letzten, überschnitten sich im Jahre 1975, als Waldbrände in Schleswig-Holstein und in Niedersachsen wüteten. Bei seinem totalen Einsatz zog sich Neithard in der Lüneburger Heide schwere Verletzungen zu. Der rechte Arm mußte in Gips gelegt werden. Und am kommenden Sonntag stand ein Konzert auf dem Programm, das er nicht absagen wollte und konnte. Trotz dringender Warnungen des Arztes bestand Bethke darauf, daß ihm der Arzt für die Dauer des Konzertes den Gipsverband abnahm und ihm eine schmerzstillende Spritze gab. Das Konzert war gerettet, indem Bethke das Risiko der Gefährdung seiner Gesundheit auf sich nahm.
Zur Vielfalt und Originalität Bethkes gehört auch sein Hobby - er ist Pilot. Einmal kam das Hobby der Kunst zu Hilfe. Als eine Konzerttournee in Australien durch einen Pilotenstreik gefährdet war, mietete sich Bethke kurzerhand ein Flugzeug, das er selbst von Station zu Station seiner Konzertreise steuerte. Auch in Südamerika verband er seine Auftrittsorte mit dem Fliegen.
Nur andeutungsweise kann erwähnt werden, daß Neithard Bethke durch sein künstlerisches Wirken schon lange, bevor es ein Schleswig-Holsteinisches Musikfestival gab, einen ganz entscheidenden Beitrag zur Kulturlandschaft Schleswig-Holstein leistete und noch immer leistet.
Als Abschluß soll wieder ein Goethe-Zitat stehen: "Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst"
Der Künstler braucht für sein Wirken zeitweilig Einsamkeit, Stille, Rückzug von der Welt, Konzentration ganz auf die Kunst. Aber dann wird er von der Kunst und durch die Kunst wieder zur Welt zurückgeführt, die sich ihm ganz neu erschließt. Bei aller Konzentration auf seine Kunst ist Neithard Bethke nicht weltfern oder weltflüchtig geworden, sondern weltzugewandt geblieben. Gerade seine Konzentration auf die Kunst führte ihn zum Engagement in verschiedenen Bereichen der Welt. Es bleibt für alle, so für Institutionen, Hörer, Musizierende, für die Kulturlandschaften, nicht nur Schleswig-Holsteins, sondern Deutschlands und darüber hinausgreifend Europas, zu wünschen übrig, daß weiterhin Neithard Bethke in seinem unbändigen Schaffensdrang die hiermit kurz skizzierte, künstlerische Arbeit fortsetzen möge!
Martin Metzger
Prof. emen für Altes Testament und Biblische Archäologie
an der Theologischen Fakultät
der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel