(Gesammelte theologische Reden zwischen 1977 und 2016)
Lied: EG 317, 1-3 „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren" Ansprache: Gedanken über den Text „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat!"
(Psalm 103, 1-2)
Liebe (Konvents)gemeinde!
Als in dem letzten Jahrzehnt vor der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten in der zur mecklenburgischen Landeskirche gehörenden, aber unmittelbar im Grenzgebiet auf schleswig-holsteinischen Gebiet liegenden Dorfkirche zu Ziethen bei Ratzeburg ein Neubau der Orgel in ihrem historischen Gehäuse vollendet wurde, ließ der Organist, welcher als spiritus rector intensiv den ganzen Bau durchgesetzt und vorangetrieben hatte, von einem künstlerisch befähigten Chormitglied des ihm ebenfalls unterstehenden Ratzeburger Domchores am Unterfries des Gehäuses in goldenen Lettern den Spruch aufmalen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat!" Die Orgel hängt so tief auf der Empore der kleinen Kirche, daß man beim Hinausgehen nach den Gottesdiensten schon fast unwillkürlich den Kopf einziehen muß, zumindest aber jeder beim Ausgang mahnend erinnert wird, demütig sein Haupt senkend, das Danken nicht zu vergessen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er Dir Gutes getan hat!"
Wir alle, die wir hier heute zusammen gekommen sind, haben in unserer haupt- oder nebenberuflichen Tätigkeit, jeder mit seiner Begabung und mit seinem Vermögen, durch Tat, Ton oder Wort oder durch alles drei, Gott miteinander zu loben und zu preisen. Aber nun weiß jeder von uns, daß unsere Seele nicht immer dazu aufgelegt ist, Gott zu loben, und –diese Bemerkung sie mir hier erlaubt – zumal noch als Kirchenmusiker mit der Auflage: „Gott solln wir billig loben." Denn: Einmal gemessen und im Vergleich mit der Ausbildung eines Theologen sind Kirchenmusiker ja fast 10 Jahre länger im Studium, weil sie „von Kindesbeinen an unzählig viel zu gut" schon seit frühester Jugend durch Klavierstunden, folgenden Privatunterricht im Orgelspiel, durch Mitarbeit in der örtlichen Kantorei und ihren Musiziergruppen intensiv zu lernen hatten, bevor man überhaupt das Normstudium an den Hochschulen beginnen konnte. Dieser langjährigen mühevollen Ausbildung entspricht aber kaum die landläufige Honorierung. Vielleicht auch deshalb sind wir, und nicht nur wir Musiker, sondern auch aus anderen Gründen alle in der Kirchenarbeit Beschäftigte, öfter träge, müde, matt, fühlen uns ausgenutzt und in der geleisteten Arbeit zu gering geschätzt.
Wie ein Vogel, der sich in einem Netz verfangen hat, so ist unsere Seele verstrickt in den Widrigkeiten dieser Welt. Sie kann sich aus eigener Kraft nicht daraus befreien und sich aufschwingen zu Gott. Darum muß unsere Seele ausdrücklich dazu aufgerufen und ermuntert werden, Gott zu loben: „Lobe den Herrn, meine Seele!" Und: „Wach auf, die du in Schwermut und Traurigkeit oder Gleichgültigkeit dahindämmerst. Laß den Lobgesang hören!" Dazu werden Instrumente aufgeboten: Psalter und Harfe, Pauken und Trompeten, Geigen, Posaunen und Orgel, damit sie unsere Seele mitreißen, damit sie sich über alles, was sie bedrückt, ablenkt, erleidet, nun erhebt zum Lobe Gottes: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat!"
Vielleicht mag nun jemand unter uns sagen: Ich habe wirklich keinen Grund, Gott zu loben: Was hat er mir schon Gutes getan? Ich bin arbeitslos, ich habe keine passende Wohnung, ich lebe von Sozialleistungen, ich habe keinen Menschen, der mich wirklich liebt. Meine Seele möchte darum viel lieber einen Klagegesang über das Elend dieser Welt anstimmen. Nun, was wir leiden, was uns bedrückt, soll nicht unter den Teppich gekehrt werden. Wir dürfen Kummer, Sorgen und Leid im Gebet vor Gott bringen, wie es die Psalmbeter getan haben, wie es auch viele Liederdichter- und Komponisten getan haben.
Wenn wir aufmerksam die Lieder unseres Gesangbuches durchgehen, werden wir finden, daß die meisten Lob- und Danklieder in schwerer Zeit entstanden sind: in Kriegs-, Hungers- und Pestzeiten. Sie sind Lobgesänge in der Nacht, Lob aus der Tiefe, Gesang im Feuerofen. Weil der Grund unseres Gotteslobs nicht in unserem persönlichen Wohlergehen liegt, sondern außer uns in dem Christusgeschehen, darum ist es nicht den Wechselfällen unseres Lebens unterworfen.
Ein junger Mann hatte einen Traum: Ihm träumte, daß er in einen Laden eintrat. Es war kein gewöhnlicher Laden; denn hinter dem Ladentisch stand ein Engel. Der junge Mann wußte, daß er hier bekommen konnte, was es in keinem gewöhnlichen Laden zu kaufen gab. „Was verkaufen Sie"? fragte er den Engel. Dieser antwortete: „ Alles, was Sie wünschen, mein Herr!" Der junge Mann dachte nicht nur an sich selbst, sondern an alle Menschen. So begann er hastig, um nur nichts zu vergessen, aufzuzählen: „Ich wünsche mir, daß die Kriege in der Welt aufhören, daß die Menschen lernen, in Frieden und Freiheit zusammen zu leben, daß die Güter dieser Welt gerecht verteilt werden und niemand mehr hungern muß, daß es mehr Liebe in der Welt gibt, daß die Menschen aufhören, ihre Umwelt zu zerstören und alles daran wenden, die Schöpfung zu bewahren, daß sie liebevoll mit Pflanzen und Tieren umgehen…"
„Entschuldigen Sie", fiel ihm der Engel ins Wort, „Sie haben mich falsch verstanden. Wir verkaufen keine Früchte, wir verkaufen nur die Samen!"
Eine Geschichte zu Nachdenken: Gott liefert uns nicht frei Haus, was wir wünschen. Er schafft die Voraussetzungen dazu, aber tun müssen wir das Notwendige selbst. Darum dürfen wir nicht die Hände in den Schoß legen, und alles dem „lieben Gott" überlassen. Er hat Frieden gemacht mit uns durch Jesus Christus, nun ist es an uns, Frieden untereinander zu machen. Er hat uns gerecht gemacht durch den Glauben, nun ist es an uns, untereinander gerecht zu werden. Gott hat uns gesagt, was gut ist, - „vergiß es nicht, Seele, was er dir Gutes getan hat"; - nun ist es an uns, selber Gutes zu tun.
Mit dem Guten, was Gott uns getan hat, ist also nicht dieses oder jenes gemeint, das uns in unserem Leben widerfahren ist, sondern das eine, das der Grund des Christenleben ist: daß Gott uns unsere Sünde vergibt und damit alle unsere Gebrechen heilt, wie es in Psalm 103, Vers 3 heißt. Das Heil, das uns in Christus widerfahren ist, ist das Gute, das er uns getan hat: Darum „Lobe den Herrn meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat."
Indem wir trennende zwischenmenschliche Grenzen überschreiten, die der Liebe hindernd im Wege stehen, folgen wir unserem Herrn Jesus Christus nach. Und indem wir dieses tun, geben wir Gott, unserem Herrn und Schöpfer, die Ehre und loben ihn. Darum: „Lobe den Herren, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. – Alles was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen. Er ist dein Licht. Seele, vergiß es ja nicht. Lobende, schließe mit
Amen."Lied: EG Nr. 317, 4 und 5 „Lobe den Herrn, der deinen Stand sichtbar gesegnet"
Vaterunser
Segen:
„Der Segen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes geleite uns heute und weiterhin auf allen unseren Wegen. Amen."
Entwurf einer Andacht
für einen Kirchenkonvent in Pommern
von Neithard Bethke
10. Juni 2016
Kursänderung
Predigt von Neithard Bethke,
gehalten am 13. 7. 03 im Ratzeburger Dom
Ein Kriegsschiff schob sich durch die offene, unruhige See. Dichte Nebelschwaden erschwerten die Sicht. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit meldete der Ausguck: „Licht Steuerbord voraus!“ Der Kapitän schickte ein Signal: „Sie sind auf Kollosionskurs, empfehle Ihnen 20 Grad Kursänderung!“ Zurück kam die Meldung: „Ändern Sie Ihren Kurs um 20 Grad!“ Der Kapitän antwortete: „Dies ist ein Kriegsschiff. Sofort Ihren Kurs um 20 Grad ändern!“ Zurück kam das Signal: “Besser, Sie ändern Ihren Kurs!“ Ziemlich erbost ließ der Kapitän antworten: „Wir sind das zweitgrößte Schiff der Flotte mit wichtigem militärischen Auftrag. Werden von drei Zerstörern und mehreren Hilfsschiffen begleitet. Ändern Sie sofort Ihren Kurs oder es werden für Sie empfindliche Gegenmaßnahmen ergriffen!“ Prompt wurde zurückgeblinkt: „Dies ist ein Leuchtturm!“
Warum, lieber Hörer, bist Du heute hierher gekommen? Aus Gewohnheit, weil Du ja doch zu fast jedem Domgottesdienst zu kommen pflegst? Oder aus Pflichttreue, Deinem Banknachbarn gegenüber, der sich hier ja auch immer wieder blicken läßt, und mit dem sich vor dem Orgelvorspiel noch ein leises Schwätzchen halten läßt? Oder aus Zufall, weil die Gottesdienstzeit mit ihrem zeitlichen Angebot gerade so günstig für einen Touristen war, einmal en passant etwas mitzunehmen, was eventuell den heimlichen religiösen Hunger stillt oder zumindest ein permanentes Unbehagen der Seele befriedigt, weil man doch schon so oft an einer Kirche lediglich vorbeigegangen ist? Oder aus Berufspflicht als Küster, Organist, Presbyter, Kirchenbediensteter oder Pastor?
Oder bist Du wirklich gekommen, weil es Deine Überzeugung ist, mit einem Gottesdienst die Woche zu beschließen oder die neue Woche anzufangen, Gott in Gebeten und Liedern zu loben und zu danken, sein Wort aus der Bibel zu vernehmen und dann zumindest Dein mit Inbrunst gesprochenes und nicht nur mechanisch abgeleiertes Vaterunser vor Gott auf dem Altar zu legen als Dein persönliches Dankopfer? Oder bist Du offen genug, eventuell festzustellen, was Du in Deinem Leben besser ändern mußt? Bist Du darum auch bereit, mit offenem und aufnahmebereitem Herzen etwas aus diesem Gottesdienst mitzunehmen, das Dich verändert, womöglich reicher und beschenkter aus diesem Paradies, wie man diese Dom-Vorhalle nennt, nach Hause gehen läßt, als Du hineingekommen bist?
Da wirft sich manchem von Euch schon gleich die Frage auf: Was kann ich persönlich denn noch erwarten, Erhebendes aus diesem „Gottesdienst“ und für mein Seelenleben Wertvolles mitnehmen, wenn die Ansprache schon zu Beginn nicht mit einem gewohnten Bibelwort oder einer Bibellesung anfängt, sondern mit einer – übrigens wahrhaftig geschehenen - unchristlichen Episode, die uns eher zum Schmunzeln denn zum Nachdenken anregt?
Unchristlich? Allenfalls unbiblisch in dieser Form, aber nicht unchristlich im Geist, und ich wäre dankbar und zufrieden, wenn Du, lieber Hörer, als Bleibendes vom heutigen Gottesdienst allein schon diese Geschichte wie ins Herz gebrannt mitnehmen würdest, die man wegen der prägnanten Kürze ja auch gut behalten und weitererzählen kann.
Westlich von dem berühmten Wallfahrtsort Santiago de Compostela in Nordwestspanien, in dessen riesiger Kathedrale ich kürzlich nach 37 Jahren zum ersten Male wieder an der Orgel saß, und von wo aus – das muß ich heute dankbar sagen – vielleicht nicht zufällig einmal mein internationaler künstlerischer Werdegang als Organist wie auch als Dirigent begann, da befindet sich, sich zerklüftet und mit Felsvorsprüngen ins Meer des Atlantischen Ozeans vorschiebend, das sogenannte Kap Finisterra, für die Spanier der Eroberungszeit das Ende der Erde bedeutend. Aus der Sicht beschränkter Horizonte des spätmittelalterlichen Europäers, der vielen ja auch noch heute viel schönere Aus- und Einsichten beschert, war diese Einschätzung, die gleichzeitig gepaart war mit nationalem Stolz, zu verstehen.
Doch man sollte wissen, daß sich bedeutend weiter westlich in den Atlantik hineinragend, etwa 200 km weiter südlich von Santiago, nämlich in Portugal, der wirklich westlichste Punkt des europäischen Kontinents, das sogenannte Cabo de Rocco befindet. Als hoher Felsen, markant das Westufer Portugals beherrschend und von einem stolzen und im Dunkeln weithin leuchtenden Leuchtturm bekrönt, zieht dieser Fleck nicht nur viele Touristen an, obwohl die Zufahrt eher beschwerlich und nicht ungefährlich ist, wie es gleichzeitig auch den auf dem Meer fahrenden Schiffen, die entweder zur Biskaya hinauf oder zur Straße von Gibraltar hinunterfahren, ein unverzichtbarer und sicherer Navigationspunkt selbst bei schlechter Sicht ist.
Mein Reisebegleiter, ein außerordentlich fähiger ehemaliger Kapitän der Handelsmarine, betonte nicht nur einmal, wie deutlich und schon von weitem sichtbar dieser Leuchtturm von den Besatzungen der Schiffe als solcher erkennbar ist, der im gleichen Augenblick als prägnantes Seezeichen auch warnt vor den in den Seekarten eingetragenen Untiefen, die sich durch die kleinen, der eigentlichen Küste vorgelagerten und weit ins Meer sich verlierenden Felsinseln auszeichnen.
Im Zeitalter elektronischer Navigationsinstrumente und satelliten-gelenkter autopilotischer Schiffssteuerungen (GPS) sind wir vielleicht versucht, über die Bedeutung dieser Leuchttürme zu lächeln. Doch was haben ohne jede Frage nicht diese Lichtzeichen an den Küsten und auf den Inseln überall auf unserer Erde den Schiffahrenden an großer Sicherheit vermittelt? Ohne dieses Seezeichen hätten nicht wenige auf dem Meer nur eher hilflos und gefährdet ihren Weg ziehen können, wären viele Schiffe gestrandet oder aufgelaufen, Menschen umgekommen, wäre Hab und Gut vernichtet worden. Gerade dann, wenn man wie ich an der Küste aufgewachsen ist, weiß man um den unverzichtbaren Wert der Leuchttürme.
Ohne Leuchttürme geht es nicht, geht es für Schiffe nicht, geht es im übertragenen Sinne auch für uns Menschen erst recht nicht, die wir leider kein wegweisendes eingebautes GPS, meint elektronisches Navigationssystem zu eigen haben. Wir müssen uns eigenständig durch Lernen, Wissen, guten und schlechten Erfahrungen selbst unseren Lebensweg, unser angestrebtes Lebensziel, unsere Lebenshilfen und Lebensgefahren bewußt machen, wenn wir nicht kläglich Schiffbruch erleiden wollen.
Wir befinden uns hier im Ratzeburger Dom. Dieser Dom wurde wie auch der Lübecker, der Schweriner und der Braunschweiger Löwendom wie ein Leuchtturm des Glaubens von seinem Erbauer Heinrich dem Löwen an dem damaligen limes saxoniae, der Grenze zwischen den Herrschaftsbereichen der Slawen und der Sachsen, gebaut, auf daß er weithin für das Christentum zeugen und zur verläßlichen Richtschnur für den Menschen dienen sollte: Gleichzeitig waren und sind bis heute diese Dome handgreifliche, anfaßbare und sichtbare Glaubenszeugnisse, hinter denen sich der so schmerzhaft offensichtliche Kleinglaube der heutigen Zeit schamhaft verstecken kann, der es nicht mehr fertig bringt, diese Kathedralen des Mittelalters aufgrund demütiger Gottesfurcht, tiefer Frömmigkeit und aus Glaubenssehnsucht mit Menschen zu füllen, sondern der im schroffen Gegensatz dazu in erschreckendem Maße Kirchen und Dome zu schließen beginnt, sie einzustampfen, zu Gewerbehallen umzufunktionieren, die Pastoren zu entlasssen und – das sei gerade mir erlaubt zu erwähnen – leichtfertig genug ist, die Kirchenmusik, obwohl zweifelsohne überall der „zugkräftigste“ Zweig der volksmissionarischen Arbeit, als erste „dran glauben zu lassen“, was hier in Ratzeburg am Dom als Ausdruck eher sarkastisch verstanden sein kann, wie ihr alle sicher nachvollziehen könnt.
„Wohin soll ich mich wenden“, heißt es in einem Satz der berühmten und volkstümlich gewordenen, auch Euch sicherlich bekannten „Deutschen Messe“ von Franz Schubert. Ja, wohin soll ich mich wenden, wenn ich nicht Gott als Richtschnur und als wegweisendes Leuchtfeuer habe? „Weiß ich den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl“ sangen wir zu Anfang (Gesangbuch 603). Von ganzen und lauterem Herzen können wir es nur singen, wenn wir Jesus als Leuchtturm für uns anerkennen, so wie es in der Bibel heißt: „Dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege“. Darum wollen wir unsere Zuversicht auf Gott bestätigen durch das Lied, welches wir gleich am Ende singen werden: „Stern auf den ich schaue, Fels auf dem ich steh, Führer dem ich traue, Stab, an dem ich geh.“ (Gesangbuch 407)
Sonntag für Sonntag, Wochenende für Wochenende, wird uns das Leuchtfeuer des Evangeliums gepredigt, um uns Christen Sinn und Ziel unseres Lebens bewußt zu machen. Ebenfalls Sonntag für Sonntag mahnen uns zum Beispiel die neuen Glocken des Ratzeburger Doms, Gott nicht an die Seite zu schieben. Eindringlich musiziert uns in vielen Konzerten die lebendige Kirchenmusik gerade am Ratzeburger Dom in einer anderen Sprache als das alltägliche Wort die biblische Botschaft in Herz und Sinn, wie auch Bildhauer und Maler nach ihrer Begabung das ihre dazu taten und immer noch tun, Gottes Wort zu predigen in Form, Klang und Bild. Wir haben keine Entschuldigung am Jüngsten Gericht vorzubringen, daß wir von nichts gewußt hätten, bewußt oder unbewußt eine Kursabdrift vom gesteckten Ziel in Kauf genommen oder veranlaßt zu haben; denn „wir haben Moses und die Propheten“ genügend Gelegenheit zu hören gehabt in unserem Leben als Menschen im sogenannten „christlichen Abendland“, vom Nordkap bis Sizilien, von Osteuropa bis zum portogiesischen Cabo de Rocco.
Doch, Gott sei es geklagt: wie oft im Leben weichen wir den Fordernissen des uns gepredigten Evangeliums aus, wie oft auch den eigentlich logischen Folgerungen unseres im sonntäglich gesprochenen Credo „bekannten Glaubens“ an Jesus, und versuchen, uns das Lebensziel nach eigenen Erfordernissen, aus Bequemlichkeit oder anderer persönlicher Umstände halber selbst zu diktieren. Dann kommt unter Umständen es schneller und
öfter, als man ahnen will, zu jenen verzweifelten Lebenssituationen, die uns schnell noch beten lassen: „Höre mal, lieber Gott, gib mir mal 20 Grad nach, sonst bist du auf Kollisionskurs mit mir!“
Meinen wir, Gott damit umstimmen oder sogar drohen zu können, ihn, denselben Gott, den wir oft nur anrufen, wenn wir ihn einer mißlichen persönlichen Lage halber dringlichst anflehen, doch gefälligst zweimalzwei vierkommaeins oder dreikommaneun sein zu lassen, meinen, ihn etwa beeinflussen zu können? Meine lieben Zuhörer, aus diesen Grunde leiht uns Gott, der uns Menschen zum Glück nicht mit dem Metermaß um den berechnenden Kopf, sondern um das demutsvolle und gläubige Herz mißt, sein Ohr ganz sicherlich nicht.
Wer aber von Herzen Gott voller Demut um Hilfe anfleht, für den ist Gott da, so wie es unser großer Dichter Paul Gerhardt singt: „Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein läßt Gott sich gar nichts nehmen: Es muß erbeten sein!“. Gott ist unabwandelbar und verläßlich immer an dem Ort, den er einnimmt als das A und das O, den Anfang und das Ende aller Dinge, als der sichtbare und felsenfeste und unverrückbare Leuchturm, nach dessen Feuer wir unseren Lebensweg getrost ausrichten können. Sonst wäre er ja auch nicht verläßlich, wäre nicht der, wie es Jochen Klepper mit gläubiger Zunge sagt, „der du allein der Ew´ge heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unserer Zeiten.“.
Unserer aller Lebenszeit ist bemessen. Nutzen wir die Zeit, unseren Weg zu finden, der uns auf rechtem Kurs in den Himmel führt. Nicht ausgeschlossen ist, daß wir nach der Suche auf unserem Weg feststellen müssen, daß wir es sind, die möglicherweise 20 Grad abweichen müssen von unserem bisherigen Wege, um nicht elendiglich Schiffbruch auf unserem Lebensweg zu erleiden. Je einsichtiger wir dessen sind, desto eher stimmt unser Leben mit Gottes Willen überein, und desto eher finden wir schon im irdischen Leben Frieden mit unserer ruhelosen pochenden Seele, die uns immer wieder gemahnt, dem Leuchtfeuer des Glaubens zu folgen.
Hören wir diese kurze Geschichte zum Schluß noch einmal, die uns nun gar nicht mehr unchristlich, sondern plötzlich sogar fast biblisch erscheinen mag, weil sie uns oft nur zu bequemen Wochenendchristen, die sonntags in die Kirche gehen um pharisäerhaft öffentlich zu beten, aber im Laufe der Woche womöglich dem Nächsten Böses nachreden, nichts zum Guten wenden, weil es etwa die Aufgabe des eigenen Standpunkts erfordert, etwas, was anderen zusteht, uns selbst zustecken, Gott einen guten Mann sein lassen, statt den Feiertag zu heiligen, eine gesegnete Ehe leichtfertig brechen, Unwahrheiten gegenseitig abdecken, weil sonst ungutes Tun in eigenen Reihen offenbar würde, vermessene Bürokratie und anmaßende Juristerei statt den Heiligen Geist walten lassen, und was dergleichen mehr sein könnte, lasst uns diese Geschichte also noch einmal hören, weil eben sie uns einen das Gewissen und dem Nächsten verpflichtenden Funken des pfingstlichen Feuers der christlichen Urgemeinde ins Herz getragen und uns erweckt hat:
Ein Kriegsschiff schob sich durch die offene, unruhige See. Dichte Nebelschwaden erschwerten die Sicht. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit meldete der Ausguck: „Licht Steuerbord voraus!“ Der Kapitän schickte ein Signal: „Sie sind in Kollosionskurs, empfehle Ihnen 20 Grad Kursänderung!“ Zurück kam die Meldung: „Ändern Sie Ihren Kurs um 20 Grad!“ Der Kapitän antwortete: „Dies ist ein Kriegsschiff. Sofort Ihren Kurs um 20 Grad ändern!“ Zurück kam das Signal: “Besser, Sie ändern Ihren Kurs!“ Erbost ließ der Kapitän antworten: „Wir sind das zweitgrößte Schiff der Flotte mit wichtigem militärischen Auftrag. Werden von drei Zerstörern und mehreren Hilfsschiffen begleitet. Ändern Sie sofort Ihren Kurs oder es werden für Sie empfindliche Gegenmaßnahmen ergriffen!“ Prompt wurde zurückgeblinkt: „Dies ist ein Leuchtturm!“
Liebe Gemeinde, auch Dir sei Gottes Wort Deines Fußes Leuchte und ein Licht auf Deinem Wege. Das Leuchtfeuer des heiligen Geistes leite Dich durch alle Nächte und Tage des weiteren Lebens, bis Dir einst leuchtet das unvergängliche Morgenrot der himmlischen Ewigkeit.
Amen.
Wörtlich genommen: Von Tragen, Mittragen und Vertragen
Predigt von Neithard Bethke,
gehalten am 24. 6. 07 in der St. Nicolai-Kirche
zu Wöhrden/Dithmarschen
anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft
Liebe Gemeinde,
diese Euch nicht ungeläufige Anrede des Pastors zu Beginn einer Predigt wirkt nicht selten wie eine Farce, dann etwa nämlich, wenn nicht einmal 2 – 3 % der eigentlichen Gemeinde im Gotteshaus sitzen und man ehrlicherweise höchstens von einer christlichen Delegiertenversammlung statt von einer Gemeinde sprechen müßte. Das ist beschämend für uns Christen, und es tröstet uns über diesen misslichen Umstand auch das bekannte Jesus-Wort nicht darüber hinweg, welches betont: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“.
Der Ursachen für den Schwund der Besucher im gottesdienstlichen Bereich der Kirche gibt es sicher viele. Aber das ist hier heute nicht der Platz für diesbezügliche statistische Untersuchungen. Jedoch will ich auf einen möglichen Grund hinweisen dürfen, der sicher nicht zu weit hergeholt erscheint: Kann es nicht auch an der Predigt liegen, oder am Prediger? Zum Beispiel dann, wenn jener im besten Fall eine wissenschaftlich fundierte Predigt hält, die theologisch einwandfrei sein mag, aber den Hörer überhaupt nicht erreicht, weil der sich ja schließlich nicht in einer sezierenden Universitätsvorlesung befindet, sondern im Gottesdienst, aus dem er getröstet, gestärkt und erbaut wieder herauskommen möchte? Oder kann es im schlechteren Fall daran liegen, wenn der Prediger den Hörer als zu anspruchslos unterschätzt, sich nicht gut vorbereitet hat, Allgemeinplätze verteilt, die immer stimmen, aber nicht unbedingt biblischen Ursprungs sind und seine Ansprache ganz banal allein darin gipfelt: „Seid gut zur Großmutter und zu den Tieren. Amen.“
Liebe Gemeinde, so ein Ergebnis trägt nicht. Trägt uns nicht in und über Lebenssituationen, wenn wir uns an stärkende biblische Worte erinnern wollen, wenn wir in geistlicher und leiblicher Not sind und die letzten Reste eines alten Kinderglaubens aus tiefer Verschüttung der Seele herbeigesehnt werden. Banalität und Allgemeinplätze tragen da nicht.
Aber was trägt? Tragen tut sicherlich die Berufung auf den Bibeltext. Wenn uns ein Prediger das Wort der Heiligen Schrift in überzeugender Weise nahe gelegt hat, wird es uns tragen können, ja, „tragen bis zum Alter hin“, wie es Jochen Klepper in einem Gedicht ganz wunderbar ausgedrückt hat. Und über dieses Tragen, über das Mittragen und schließlich über das Vertragen möchte ich heute reden.
Vor einem Jahr feierte ich hier in Wöhrdens alter St. Nicolai-Kirche – wie Ihr Euch alle erinnert – mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum als Kirchenmusiker, in einer von Pastor Dietmar Goerdel in einfühlsamer Weise und eindrucksvollen Art gestaltet, die in einer von mir dirigierten Aufführung von Bachs Johannes-Passion am Abend gipfelte. In einem abendlichen Gespräch, welches ich bei diesem Anlaß hier in Wöhrden mit einigen Personen führte, kam es zu einer plötzlich an mich gerichteten Frage, warum es in der Bibel den Begriff der „Toleranz“ nicht gäbe. Ich, nicht nur Kirchenmusiker, sondern ebenfalls studierter Theologe, müsste das doch wissen. Ob dieser Begriff denn tatsächlich keine christliche Tugend bezeichne, sondern ausschließlich ein staatspolitischer Begriff sei, der im Übrigen heute viel zu viel missbraucht würde und Tor und Tür für Einflüsse öffne, die man als guter deutscher Staatsbürger nicht gutheißen könne.
Nun, es ist richtig, dass der Begriff der Toleranz in der Bibel nicht vorkommt. Nehmen wir aber doch einmal diesen Begriff einfach beim Wort und suchen seine Herkunfts-Wurzeln. Das Wort Toleranz kommt aus dem Lateinischen und ist zurückzuführen auf das Wort tolerare, und das bedeutet im Deutschen „tragen“. Wir nehmen das Verbum „tragen“, welches dem Begriff Toleranz zugrunde liegt, zum Ausgangspunkt und fragen nach dem Vorkommen und der Bedeutung des Wortes „tragen“ in der Bibel.
Dem lateinischen Verbum „tolerare oder „tollere“, welches dem deutschen Wort „tragen“ noch mehr äquivalent ist, entspricht im Hebräischen das verbum „naßa“, welches im Alten Testament einen weit gefächerten Bedeutungsgehalt hat. Und zwar:
1) Tragen im wörtlichen Sinn:
Das Wort „tragen“ meint im wörtlichen Sinn das Tragen einer Last, das Aufsichnehmen einer Belastung. So trägt, um wenige biblische Beispiele zu nennen, Rebekka einen Krug auf ihrer Schulter (1. Mose 24, 15), die Wasser der Sintflut tragen die Arche Noahs (1. Mose 7, 17), Simon von Kyrene trägt das Kreuz Jesu (Matth. 27, 32), „Einer trage des anderen Last“ (Gal. 6, 2) – das alles kann man ganz wörtlich verstehen: Zupacken, wenn einer selbst zu schwer zu tragen hat.
Auf unser eigenes Leben übertragen: In unserem Leben können Umstände eintreten, die es uns unmöglich machen, überhaupt irgendetwas zu tragen. Wer unter Bandscheibenvorfall, unter Athrose in den Knien, unter Meniskusschaden leidet, ist darauf angewiesen, dass andere ihm das Tragen der alltäglichsten Dinge abnehmen: Das Tragen der Einkaufstasche, des Wäschekorbes, das Tragen zur Mülltonne. – Wer nicht heben darf, ist froh darüber, dass es Koffer mit Rollen gibt, die das Tragen ersparen. Aber er ist darauf angewiesen, dass ihm andere den Koffer beim Ein- und Aussteigen aus dem Zugwagon herunter heben. Es gibt unendlich viele weitere Beispiele.
2) Dann gibt es das Tragen im übertragenen Sinne:
„Einer trage des anderen Last“ im übertragenen Sinne: Menschen tragen seelische Lasten mit sich herum, Lasten der Vergangenheit und der Gegenwart, Lasten des Alltags, die Last der Verantwortung, die Last einer Erkrankung. Mancher ist belastet, weil er sich einer Anforderung nicht gewachsen sieht. Mancher durchlebt einen Tiefpunkt, erlitt eine Niederlage, erlebte eine herbe Enttäuschung. Eigene Krankheit oder die von Angehörigen kann zur Last werden. Menschen sind belastet durch den Verlust eines geliebten Menschen. Wir können dem anderen die Last nicht abnehmen – wir können ihm aber das Tragen erleichtern. Das kann durch tätige Hilfe geschehen. Es ist aber auch schon eine Hilfe, wenn wir still zuhören und der andere sich eine Last von der Seele reden kann. Ein gutes Wort oder ein Brief, in dem Anteilnahme, Einfühlungsvermögen, Verständnis, Zuspruch zum Ausdruck kommen, können hilfreich sein. Wenn ich weiß: Da ist ein anderer, der mitträgt, wird die Last leichter. Und wir können für den anderen und mit dem anderen beten und all das, was ihn beschwert und belastet, vor Gott bringen und ihm in die Hände anempfehlen. „So nimm denn meine Hände und führe mich – ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt“, heißt es so vertrauensvoll in einem Liede, welches wir alle kennen und gerne singen. Wo ein anderer belastet ist, dürfen wir nicht nur daneben stehen. Und nicht nur seine Last helfen zu tragen, sondern ihn selbst in die Hand Gottes legen, dass er ihn und uns trägt. Und damit kommen wir zu einem weiteren Bedeutungsgehalt von naßa - „tragen“.
3) Nämlich: Getragen werden
„Tragen“ kann sein: nicht die Last des anderen, sondern den anderen selbst zu tragen. Nicht meine Last, sondern ich selbst werde dann getragen.
Das Tragen im wörtlichen Sinne kann hierdurch eine besondere Nuance bekommen: das behutsame und zugleich schützende Tragen einer kostbaren Last, den liebevollen, sorgfältigen Umgang mit dem anderen. Es gab einmal einen Hochzeitsbrauch, wenn die frisch Vermählten von der Hochzeitsfeier nach Hause kommen, dann nahm der Bräutigam die Braut in die Arme und trug sie über die Schwelle der Tür ins Haus oder in die Wohnung.– der Brauch lässt sich deuten als ein Versprechen des Bräutigams: „Wie ich dich jetzt auf Armen trage, so will ich dich die gesamte Zeit unseres gemeinsamen Lebens tragen, will dir Schutz. Beistand, Wärme, Geborgenheit und Liebe gewähren, will zu dir stehen in guten und bösen Tagen, in Freud und Leid, in Gesundheit und Krankheit“.
Ihr alle wißt hier, liebe Zuhörer in Wöhrden, dass mein Vater 10 Jahre lang in China war und er dort als Missionar wirkte, bevor er zu Euch als Pastor nach Wöhrden kam. Ich selbst habe den Missions-Ort, er heißt Pakhoi und ist nicht weit entfernt von der chinesisch-vietnamesischen Grenze, auf meinen vielen Asien-Konzertreisen bereits 5 Mal besucht, und einmal habe ich auch auf der Kanzel gestanden und zwanzig Gruß- und Segens-Sätze in Chinesischer Sprache zur Gemeinde gesprochen, welche mir mein Begleiter und Freund Sing Sang Leung eingeübt hatte, von der Kanzel also, auf der sowohl mein Vater als auch mein Großvater als Missionar predigend und das biblische Heil verkündend, Jahrzehnte vorher gestanden hatten. Warum spreche ich das an? Nun:
Im Chinesischen gibt es eine wunderbare Redewendung. Wenn eine Frau spürt, daß sie „guter Hoffnung“ ist, wie wir das zu sagen pflegen, und wenn sie diese freudige Nachricht ihrem Mann, ihrer Familie oder einigen Freunden übermitteln will, dann beschreibt sie es mit dem Satz und den Worten: Shen Huai You Xi.
Shen: das ist der Leib. -- Huai: ist im Sinne von tragen gebraucht, noch besser von umarmen, wie eine Mutter ihr Kind in die Arme schließt.
Huai: man benutzt das als Verb, um die Herzlichkeit des Umarmens zu betonen, so zu sagen, in die Brust gedrückt.
You: ist gebraucht als „haben“ ---Xi: das ist Glück
Und dann heißt es als ganzen Satz formuliert so schön:
Shen Huai You Xi. -- „Ich trage Glück im Leibe.“
In der Bibel ist die Rede von der Amme, die das Kind trägt (4. Mose 11, 12), vom Vater, der sein Kind in Armen hält (5. Mose 1, 31), vom Hirten, der das Jungtier der Herde im Gewand trägt (Jes. 40, 11). – Aber wir müssen gar nicht bis ins Alte Testament gehen, sondern in unserer Umgebung die Augen aufmachen: Junge Eltern verwenden heute neben oder anstelle des Kinderwagens ein großes Umschlagtuch, das sie kunstvoll um den Körper schlagen, um in diesem Tuch ganz nahe am eigenen Körper das Kind zu tragen und um ihm zugleich Hautkontakt und Körperwärme zu vermitteln. Man möchte meinen, dass das kleine Wesen durch die Haut Liebe, Zuwendung und Geborgenheit verspürt, die von der Mutter oder vom Vater ausgehen. Damit kommen wir unmittelbar zum nächsten Punkt:
4) Das Getragen sein vom Vater - Gottes Tragen
Das Euch eben an mehreren Beispielen beschriebene fürsorgliche, liebevolle Tragen der Amme, des Vaters, des Hirten wird zum Bild für das Handeln Gottes an seinem Volke Israel: Im Laufe seiner Geschichte, wie er es trug auf dem Weg durch die Wüste von Ägypten zum Sinai in das gelobte Land, aus der babylonischen Gefangenschaft zurück in das Land der Väter. Selten war es mir persönlich so eindringlich wie in dem Moment, als
ich nach schwerer Erkrankung vor drei Jahren fast einen Monat in Jerusalem und Palästina auf Konzertreise weilte, und die biblische Geschichte und das Getragensein des Volkes Israel durch Gott schon seit mehreren tausend Jahren noch heute zum Greifen spürbar wurde. Ich erinnerte mich der Bibelstellen des Exodus wie etwa: „Ich habe euch auf Adelers Flügeln getragen und hierher bis zu mir gebracht“ (2. Mose 19, 4). -- Und: „Der Herr, dein Gott, hat dich auf dem ganzen Weg, den ihr gewandert seid, getragen, wie ein Vater seinen Sohn trägt“ (5. Mose, 1, 31) An die in Babylon Verbannten ergeht die prophetische Verheißung: „Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte, die Lämmer wird er in seinem Arm nehmen und in seinem Gewand tragen“ (Jes. 40,11)
Kann das musikalisch schöner ausgedrückt werden als durch die berühmte Arie „Er weidet seine Herde“ aus dem Oratorium „Messias“ von Georg Friedrich Händel, welches unter meiner Leitung als meine allererste Oratorienaufführung in meinem Leben am 18. Dezember 1965 in dieser alten St. Nicolai-Kirche zu Wöhrden mit meinem damals schon sehr guten Wöhrdener Kirchenchor erklang? Hilft uns nicht in diesem und soviel weiteren Fällen die musikalische Exegese einfühlsamer Komponisten und großartiger Interpreten diese Bibeltexte nahe zu bringen, wie es das Wort allein kaum kann? Weil nämlich in der Musik dieses Getragenwerden so vortrefflich und so beruhigend und so tröstend zum Ausdruck kommt.
So ergeht Gottes persönliche Zusage an jeden Einzelnen von uns: „Bis in euer hohes Alter bin ich derselbe, und bis ihr grau werdet, werde ich euch selbst tragen. Ich, ich habe es getan, ich selbst werde heben und ich selbst werde tragen und werde erretten.“ (Jes. 46, 4)
Dieser von Jochen Klepper so eindrucksvoll in Gedichtform gebrachte Text findet sich – allerdings mit einer zu simplen, ungenügenden und anspruchslosen Melodie versehen - auch in unserem Gesangbuch: Die Neuvertonung, die ich vor Jahren geschaffen habe, schmiegt sich diesem Text auch in der Melodiegebung so hautnah an und ist eine Textinterpretation für sich ist, da braucht man keinen Prediger mehr. Das Lied. „Ja, ich will euch tragen bis zum Alter hin“, Ihr solltet es Euch zumindest zu Hause im Gesangbuch durchlesen.
Gott trägt nicht nur unsere Last, er trägt uns selbst. Diese Zusage gilt auch jungen Menschen, die ihren Lebensweg noch vor sich haben. Gott gibt ihrem Leben eine tragfähige Grundlage. - Die Älteren unter uns haben es erlebt, wie Gott uns über Jahre, über Jahrzehnte hin trug. Wir alle wissen um Situationen, in denen wir spürbar erfahren, wie Gott uns über Klippen hinweg und an Abgründen vorbei trug. Aber auch da, wo wir es nicht bewusst wahrnehmen, leben wir von der Tragkraft Gottes. Er wird uns tragen über die letzte Schwelle, die Schwelle, die von dieser irdischen in die himmlische Welt führt. Der arme Lazarus „wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß“ (Luk. 16, 22)
5) Vom „tragen“ kommen wir zum – ertragen
Auch bei gutem Willen sind wir manchmal am Ende mit unserer Tragkraft, sind wir nicht in der Lage, die Last des Anderen oder sogar ihn selbst zu tragen. Wenn man einen Koffer über eine längere Strecke und eine längere Zeit lang zu tragen hat, denn gewöhnt man sich nicht etwa im Laufe der Zeit an die Last, sondern die Last wird immer schwerer, der Arm wird immer länger. Aus dem Tragen der Last wird ein schmerzliches Ertragen der Last. Darum sagen wir: „Es wird mir unerträglich!“; oder ihr kennt alle die berühmte Stelle aus der Literatur: „Ich habe es getragen sieben Jahr, und kann es nicht tragen mehr“ sagt Archibald Douglas in der von Carl Loewes berühmt gewordenen Vertonung der Ballade von Theodor Fontane.
Ein Mensch wird mir zur Last – ich werde ihm zur Last. „Ein anderer wird mir lästig“, wenn es zu Spannungen, zu Unzuträglichkeiten im zwischenmenschlichen Bereich kommt. Es wird mir schwer, den anderen zu ertragen – in seiner Andersartigkeit, in seinem Denken und Handeln, das mir nicht verständlich ist, in seiner Krankheit. Manchmal wird es den Kindern schwer, die Eltern, und den Eltern schwer, die Kinder zu tragen. Dem Ehemann, der einst seine junge Braut mit guten Vorsätzen über die Schwelle des Hauses getragen hatte, wird es schwer, Eigenwilligkeiten seiner Frau, die er einst nicht gesehen oder „auf die leichte Schulter genommen“ hatte, auf Dauer zu ertragen, was freilich – meine liebe Frau machte mich darauf aufmerksam - auch umgekehrt gilt.
Kranke vermögen oft ihre Leiden nicht zu ertragen und werden dadurch ungeduldig, unleidlich, unwirsch, was nur zu verständlich ist. Da geschieht es leicht, dass unsere Tragkraft versagt, dass wir, statt dem Patienten Verständnis entgegen zu bringen, ungehalten werden. In solchen Situationen wird es uns bewusst, was es überhaupt heißt, einander zu tragen. --- Wenn es uns schwer, einen anderen Menschen zu tragen, zu ertragen, dann könne wir sicher sein, dass es dem anderen genauso schwer wird, uns zu ertragen, uns zu tragen. Wir alle sind darauf angewiesen, dass uns andere tragen und ertragen. Und wir alle werden getragen von der Liebe Gottes, die nie am Ende ist, dessen Tragkraft nie versagt. Wenn wir aus diesem Blickwinkel die großartige Motette von Bach hören „Komm, Jesu komm, der saure Weg wird mir zu schwer, komm, komm, ich will mich Dir ergeben“, wird uns durch die musikalische großartig geformte Sprache Bachs dieser Zuspruch Gottes überzeugend verständlich.
Besonders schwer wird es uns, den zu ertragen, der uns Unrecht tut, wie es umgekehrt, dem anderen, den wir Unrecht taten, schwer wird, uns zu tragen.
Nicht nur Ihr Euch selbst, sondern auch mich natürlich, müßt Ihr fragen dürfen, ob ich denn selbst in meinem Leben stets diese Eigenschaften aufgebracht habe, um das menschliche Miteinander konflikt- und schmerzlos zu absolvieren.
Nein, liebe Gemeinde, ganz bestimmt nicht. Öfter als mir lieb war, meinte ich Entscheidungen treffen zu müssen, die mir notwendig erschienen und dem jeweiligen Gegenüber sicher nicht unverletzt gelassen haben. Zwei Beispiele aus vielen möglichen möchte ich als Exempel darlegen. Als Feuerwehrführer, der 27 Jahre in der leitenden Verantwortung stand, der in den letzten 10 Jahren jährlich 300 Einsätze neben Berufs- und Familienpflichten abzuleisten hatte, kam ich des Öfteren in Situationen, die ein schnelles, durchgreifendes und einschneidendes Handeln erforderlich machten, bei denen eigene oder mir unterstellte fremde Feuerwehrkräfte wegen mangelhafter Ausbildung, persönlicher Angst oder charakterlicher Unzuverlässigkeit aus dem Einsatzgeschehen herausgenommen und abgelöst werden mussten, um eine Sache zum guten Ende zu bringen oder sogar um Leib und Leben von anderen Menschen zu retten. Da war keine Zeit für lange Diskussionen, Rücksichtnahmen oder das Erörtern von entschuldigenden Erklärungen, und sicher habe ich da manchen brüskiert, persönlich getroffen und ihn nicht mitgetragen in seiner in dieser augenblicklichen Einsatzposition offensichtlichen Untauglichkeit. Doch ging es nicht darum, jemanden zu verletzen oder prinzipiell kein Verständnis für ihn aufzubringen, sondern um eine Sache, um eine Notlage, die zu meistern keinerlei Aufschub erlaubte. So waren zum Beispiel, gerade, nach dem ich erst einen Tag früher erster Wehrführer geworden bin, beim sogenannten „Türkenbrand“ in Mölln, bei dem ich an einem der beiden gleichzeitigen Brandstellen Einsatzleiter war, wegen Menschenrettung schnelle Entscheidungen zu treffen, die Rücksichtnahme auf zögernde andere Feuerwehrangehörige und deren Befindlichkeiten, aber auch auf meine eigene Person absolut ausschlossen. 15 Menschen konnten wir damals aus dem Feuer rechtzeitig retten, drei nicht. - Mir selbst tut solche meine Handlungsweise Menschen gegenüber, die nicht in der Lage sind, aus menschlichen oder fachlichen Gründen ihre notwendige Pflicht und Aufgabe zu erfüllen, manchmal leid oder sogar weh, weil man sie bloßzustellen muß, ihre Persönlichkeit eingrenzt, und das auch mehr oder minder öffentlich, denn es hören ja auch andere zu oder sehen, was vor sich geht.
Auch in meinem Hauptberuf, als Kirchenmusiker, bin ich leider gerade in letzter Zeit vermehrt – Ihr habt das vielleicht zum Teil der landesweiten Presse entnehmen können – in Konflikt geraten mit in der Kirche Mitarbeitenden, weil diese die Einsicht und das Vermögen und das Wollen nicht hatten, eine über 50 Jahre erfolgte erfolgreiche und sogar international geschätzte musikalische Aufbauarbeit in ihrem Wert richtig einzuschätzen, sie zu unterstützen oder sie zumindest nicht immer wieder zu sabotieren. Damit wurden nicht nur ich, sondern auch die bis zu 200 Mitmusizierenden des Öfteren empfindlich getroffen. Um die wertvolle kirchliche und musikalische Arbeit zu retten, waren schließlich, nach jahrelang vorausgegangenen Bemühungen, zu überzeugen, zu erziehen, zur Verantwortung zu bringen, auch Maßnahmen nötig, die menschlich gesehen nichts mehr mit einem Mittragen des Anderen zu tun hatten. Darauf kann man letztendlich sicher nicht stolz sein.
Ob in der Feuerwehr, ob in der Kirche, ob in Eurem Beruf und in Eurem Umfeld, es bleibt bei solchem Handeln überall der fade Nachgeschmack, über das eigene Tun, denn es kann einen nicht zufrieden machen, wenn man zu solchen Mitteln greifen muß, weil andere Menschen in zur persönlichen Inkompetenz beförderten Stellen sitzen und Schaden anrichten. Aber, um das ganz klar zu stellen. Es sind schon zwei verschiedenen Dinge: Jemanden aus seiner augenblicklichen Stellung und Position zu nehmen, wie einen zur Inkompetenz beförderten Minister aus der Regierungsverantwortung, der er nicht gewachsen ist, ein Pastor, der amtsanmaßend die Kirche eher schädigt als sie überzeugend zu vertreten und deswegen von der Gemeinde nicht mehr mitgetragen werden kann, ein Chorsänger, der in einem leistungsbezogenen Domchor wegen mangelnden Könnens nicht mehr in der Chorgemeinschaft mitgetragen werden kann, ein schlechter oder fauler Schüler, der vom Lehrer aus der Klassengemeinschaft, die ihn nicht mehr ohne eigenen Schaden durch das Schuljahr mittragen kann und der eine Klasse wiederholen muß, eine Feuerwehrmann, der im wahrsten Sinne im Brennpunkt des Geschehens überlastet ist wegen mangelnder Ausbildung oder menschlicher Schwäche ausgewechselt werden muß, das also ist die eine Seite, eine nach fachlichen Gegebenheiten gefällte Maßnahme. Das andere ist, die betroffenen Personen im gleichen Moment menschlich nicht fallen zu lassen, soweit das einem selbst eben möglich ist. Man muß auch den Mut haben, jemanden dringend anzuraten, eine augenblickliche berufliche oder persönliche Position aufzugeben, weil diese ihr selbst, ganz sicher aber dem ausgeübten Amt schadet. Das deutlich zu machen sollte Christenpflicht sein, nicht nur jemanden Honig um den Bart zu schmieren, womöglich persönlichen Vorteils wegen. Schwarz ist nun einmal schwarz und nicht weiß!
Also noch einmal: Besonders schwer wird es uns, den zu ertragen, der uns Unrecht tut, wie es umgekehrt, dem anderen, den wir Unrecht taten, schwer wird, uns zu tragen. Das wertvollste wäre, wenn man sich irgendwann einmal wieder mit der in zwangsweiser Kollosion geratenen Person vertragen könnte. Und damit sind wir ganz nahe bei dem folgenden Kapitel, welches ich nenne.
6) „Sünde tragen“ - Vertragen
„Christe. du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd´ der Welt“ singen wir bei jedem Abendmahl. Wir tragen doch selbst oft schwer daram, wenn wir an anderen Menschen lieblos handelten, wenn wir sie enttäuschten, sie verletzten, ihnen Unrecht zufügten, wenn wir gegenüber den Kranken nicht die nötige Geduld aufbrachten. Die Last der Schuld wiegt besonders schwer, wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, die Verfehlung wieder gut zumachen, wenn z. B. örtliche Veränderung oder gar der Tod dieses verhindert. Was geschieht, wenn die Last der Schuld unerträglich wird? Hier kommt nun eine weitere Bedeutung von „Sünde tragen“ ins Blickfeld.
7) Sünde tragen = vergeben
Im Hebräischen gibt es drei Ausdrücke für das deutsche Wort „vergeben“. Der eine davon hat die Bedeutung „tragen“: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte, er vergibt Sünde, Schuld und Vergehen“ (2. Mose 43,6). Wörtlich übersetzt heißt es aber: „Er trägt Sünde, Schuld und Vergehen“. Er wird charakterisiert als „der Gott, der Sünde trägt“. (Ps. 99, 8). Gott übernimmt die Verantwortung für deine und unsere Sünde und löscht sie. Vergebung der Sünde und das Tragen Gottes stehen nebeneinander und werden aufeinander bezogen: Gottes Tragen unserer Verfehlung schließt Vergebung ein.
„Sünde tragen“ im Sinne von Vergebung ereignet sich auch im zwischenmenschlichen Bereich. Der Verzicht auf Vergeltung und Rache bedeutet, man trägt das Böse nicht nach. Statt das Böse nachzutragen, eröffnet sich eine neue Sicht: Sünde tragen, Sünde vergeben – das heißt Verzicht auf Vergeltung, die Kette des Unheils, die Abfolge von böser Tat und bösen Folgen zu unterbrechen, einen neuen Anfang zu machen.
Gottes Gebot an uns heißt: „Nehmet einander an, und vergebt euch untereinander, wenn jemand dem andern etwas vorzuwerfen hat. wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr“. (Kol. 3, 13). Da wir selbst auf die Vergebung des anderen angewiesen sind, da wir alle von der Vergebung Gottes getragen werden, ist es uns möglich, auch dem anderen zu vergeben Darum können wir immer wieder beten, ohne dass die Worte in unserem Munde zu falschen Schlangen werden: „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir auch unserem Schuldigern vergeben!“ Wenn ich in diesem unmittelbaren Zusammenhang Karl Marx aus seinen wirklich lesenswerten Jugendschriften zitieren möchte, ist das kein Gegensatz, wenn er in überraschender Weise und in Umkehrung zum bekannten ursprünglichen Sprichwort formuliert: „Das Mittel heiligt den Zweck“. Für uns meint das: Das freiwillige Mittragen von Schuld und Sünde und ihre Vergebung kehren erstere in das Gegenteil.
„Christe, du Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt“ – wir alle kennen neben dem vorhin schon erwähnten Lied, das wir beim Abendmahl singen, sicher auch die lateinische Version dieses Hinweises, den Johannes der Täufer, dessen Gedächtnistag wir genau heute am 24. Juni wie jedes Jahr begehen, auf Jesus gab. Er ist Bestandteil der lateinischen Messe, wie sie uns seit Jahrhunderten überliefert ist. Und wenn wir es – als Protestanten allemal, weil wir nicht solange wie die Katholiken die lateinische Sprache
im Gottesdienst nutzten – in diesem Wortlaut aus dem Gottesdienst selbst nicht kennen, dann kennen wir es sicherlich aus den berühmten und großen Vertonungen der Messen von Bach. Mozart, Schubert und Beethoven, aber auch von Stravinsky, Janacek oder sogar Bethke. „Agnus Dei qui tollis peccata mundi!“: „Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt!“:
Vor gut einem Monat gab ich mein Abschiedskonzert am Ratzeburger Dom nach fast 52-jähriger Lebenstätigkeit als Kirchenmusiker, dass nebenbei gesagt hier in dieser St. Nicolai-Kirche zu Wöhrden im Jahr 1956 und mit dieser alten Orgel von Anthonius-Wilde aus dem Jahre 1593 begann. Wir führten die Hohe Messe in H-Moll von Johann Sebastian Bach auf. Das zweitletzte Stück ist eben das „Agnus dei, qui tollis peccata mundi“: Wahrhaft überirdisch schön und nicht mehr von dieser Welt sang die große Stimmkünstlerin Yvi Jänicke diese Schlußarie, was unvergesslich bleiben wird allen, die zuhörten und welches ich hier einfach mir erlaube noch einmal zu erwähnen, weil es mir immer noch täglich im Ohr und in der Seele nachklingt.. Hier begegnet uns das Verb tollere-tragen mit dem das Wort „Toleranz“ wurzelverwandt ist. „Toleranz“ ist zwar genau genommen von tolerare abzuleiten, aber tolerare und tollere müssen Bezug aufeinander haben, denn bei beiden lautet das Perfekt „sustuli“. Und damit kommen wir zum Ausgangspnnkt der Predigt zurück.
8) Tragen und Vertragen = Toleranz
Tolerant sein – das heißt, den anderen anzunehmen, den anderen tragen in seiner Andersartigkeit. Das gilt in der Familie, in der Gemeinde, in der Politik, das gilt gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe, mit anderer Sprache, mir anderen Lebensgewohnheiten, ja, auch mit anderer Religion. Warum ist Intoleranz gerade in Glaubensfragen und auf dem Gebiet der Religion oft so unerbittlich, bis hin zum Fanatismus und Extremismus, zu Kreuzzügen, zu Terroraktionen, zu Religionskriegen? Es wird doch dabei eine Religion politisch missbraucht und zur Ideologie pervertiert, um politische oder sogar persönliche Ziele zu rechtfertigen. Kann man im Ernst behaupten, der seit Jahrzehnten schwelende Nord-Irlandkrieg sei ein Religionskrieg? Kann man wirklich von einem sog Heiligen Krieg oder Religionskrieg bei den Konflikten im Nahen Osten sprechen? Sind die durch fanatisierte Moslems verursachten tödlichen Attentate in Afghanistan und im Irak durch einen religiösen Glauben zu rechtfertigen? Für uns als Christen muß als Maßstab gelten: In der Religion geht es um die Wahrheit in den letzten Lebensfragen, die Fragen um Leben und Tod, um den tragenden Grund des Lebens.
Wenn ich jedoch intolerant werde, bin ich nicht mehr fähig zum Tragen einer anderen Meinung. Vor Jahren hörte ich einmal, wie in einer Feuerwehrführerbesprechung in Rendsburg ein schlachtenerprobter älterer Wehrführer in einem anderen Zusammenhang, den der Menschenführung, ausrief. „Toleranz kommt für mich nicht in Frage. Toleranz ist immer ein Zeichen von Schwäche!“
Liebe Gemeinde: Das Gegenteil ist der Fall. Intoleranz ist ein Zeichen von Schwäche, von Unsicherheit, von Angst und Ängstlichkeit. Wenn ich von der Wahrheit meiner Auffassung überzeugt bin, muß ich dann diese Wahrheit oder das, was ich für Wahrheit halte, mit Fanatismus, Unnachgiebigkeit, Feuer und Schwert und Bomben und Attentate verteidigen? Wird sich die Wahrheit nicht selbst durchsetzen? Nicht ich habe die Wahrheit zu tragen – die Wahrheit trägt mich. Toleranz hat nichts zu tun mir Gleichgültigkeit oder Indifferenz, mit Preisgabe des eigenen Standpunktes. Aber wenn ich von der Wahrheit meiner Auffassung und von deren Richtigkeit überzeugt bin, kann ich andere Meinungen tragen und tolerieren. Ich brauche sie nicht als Bedrohung zu fürchten, sondern kann sie als Bereicherung ansehen. Keiner von uns, keine Konfession, keine Religion, keine politische Überzeugung kann für sich beanspruchen, die ganze und alleinige Wahrheit zu „besitzen“.
„Unser Erkennen ist Stückwerk“ heißt es im 1. Kor. 13, 9 aus dem Hohen Lied der Liebe, und Paulus sagt dieses auch im Blick auf unser theologisches Erkennen, auf Erkenntnis in Fragen des Glaubens – darum könnte es sein, dass der Andere mit seiner Auffassung einen Bereich der Wahrheit im Blickfeld hat, der bis jetzt außerhalb unseres Gesichtskreises lag. Wenn ich mich von der Wahrheit getragen weiß, und wenn ich mich getragen weiß von dem, der selbst die Wahrheit– dann kann ich getrost dem anderen gegenüber tolerant sein. So haben wir den Bogen vom Anfang der Predigt geschlagen, und uns nur auf die Heilige Schrift dabei berufen. Tröstlich und ermutigend, dass wir in kindlich-gläubigem Vertrauen das heute mitnehmen können.
Schließen möchte ich mit einem kleinen Gedicht der zeitgenössischen, großartigen Dichterin Eva Zeller, mit der ich seit Jahrzehnten eng befreundet bin und von der ich nicht wenige Texte vertont habe. Dieses Gedicht könnte uns die Hoffnung in die Seele zaubern, daß das heute hier Euch Nahegebrachte auf fruchtbaren gläubigen Boden fällt:
Eva Zeller: Wer weiß
Wer weiß Wer weiß
ob nicht ob nicht
der Schnee mein Kinderglaube
von gestern das letzte
heute fällt; Wort behält.
Amen.
„Abendläuten am Ratzeburger See“ op. 58/9 – 1997
von Neithard Bethke
Bei dieser revidierten Fassung von 2002 bilden die Tonfolgen des neuen Glockengeläutes des Ratzeburger Doms die musikalische Motivik, und ein Text von Martin Luther King liefert die literarische Substanz.
= In Memoriam A. – D . =
I. Lebenstraum
Einen Traum habe ich, daß eines Tages jedes Tal erhöht werde und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird.. Die rauhen Orte werden geglättet, und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen. Das ist unsere Hoffnung! Mit diesem Glauben kehre ich aus Einsamkeit und seelischer Not zurück ins fordernde Leben. Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen tragenden Stein der Hoffnung zu bauen. Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, die schrillen Mißklänge in unmenschlicher Umgebung in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit und Liebe zu verwandeln. Einen Traum habe ich.....
II. Berufung
Wir sind berufen, für die liebende Brüderlichkeit unter den Menschen zu wirken. Dieser Dienst ist eng verbunden mit den Bemühungen für den Frieden. Ich bin überzeugt, mit allen Menschen zu den Kindern des lebendigen Gottes zu gehören, auch die, welche sich feindselig zu mir stellen. Und weil ich glaube, daß dem Vater besonders die Leidenden, Hilflosen und Verachteten und vom bösen Geist Besessenen unter seinen Kindern am Herzen liegen, komme ich her, um für die Schwachen betend zu sprechen, für die, die keine Stimme mehr haben. Vergessen wir nicht, daß Gott bei denen ist, die unter dem Bösen leiden. Er gibt uns die inneren Kraftquellen, um die Bürden des Lebens zu tragen. Wir sind berufen....
III. Leuchtender Morgen der Ewigkeit
Wenn wir in der Dunkelheit irgendeines Ägyptens stehen, ist Gott ein Licht auf unserem Wege. Er schenkt uns Kraft, die Prüfungen Ägyptens zu bestehen, er gibt uns Mut, trotz allem vorwärts zu gehen. Wenn das Licht der Hoffnung flackert und die Lampe des Glaubens verlöschen wird, gibt er uns neuen Mut zum Aushalten. Er ist bei uns nicht nur im Licht der Erfüllung, sondern auch in der Finsternis der Verzweiflung! Wenn unsere Tage verdunkelt sind, und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte, so wollen wir stets daran denken, daß es in der Welt die große segnende Kraft Gottes gibt! Es kann uns Gott den Weg aus Ausweglosigkeit weisen, er will das dunkle Gestern in ein helles Morgen verwandeln, und dann zuletzt in den leuchtenden Morgen der Ewigkeit.
Komponiert und uraufgeführt im September 2002 –
Für Vibraphon, Schlagzeug, Orgel und Solosopran